Einen Tag nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms ist das tatsächliche Ausmaß der Flutkatastrophe, von der zehntausende Menschen in der südukrainischen Region Cherson betroffen sind, noch ungewiss. Nachdem seit den frühen Dienstagmorgenstunden unaufhörlich Wassermassen aus dem riesigen Kachowka-Stausee – der wegen seiner Größe offenbar auch als "Meer" bezeichnet wird – in den unteren Lauf des Dnipro-Flusses strömen, sollen die Fluten laut Experten am Mittwoch ihren Höhepunkt erreichen. Satellitenbilder von Maxar Technologies von Dienstagnachmittag zeigen bereits eine überflutete Fläche von mehr als 2.500 Quadratkilometern.

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DER STANDARD

In der überschwemmten Stadt Nowa Kachowka, die unmittelbar bei dem Staudamm liegt, geht zwar der Wasserspiegel laut den russischen Besatzungsbehörden wieder zurück. Flussabwärts ist der Wasserstand am Ufer des Dnipro aber weiter angestiegen.

Auf Satellitenbildern wird das Ausmaß der Fluten teilweise sichtbar.
APA/AFP/Satellite image ©2023 Ma

Der Uno-Nothilfekoordinator Martin Griffiths erklärte in der Nacht auf Mittwoch vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York, dass der Dammbruch "schwerwiegende und weitreichende Folgen für tausende Menschen in der Südukraine auf beiden Seiten der Frontlinie haben wird, da sie ihre Häuser, Nahrungsmittel, sauberes Wasser und ihre Lebensgrundlage verlieren werden". Der US-Regierungssprecher John Kirby geht davon aus, dass die Überschwemmungen wahrscheinlich "viele Todesfälle" mit sich bringen – auch wenn nach aktuellem Stand noch keine bekannt sind.

Kiew und Moskau schieben einander Schuld zu

Etwa 42.000 Menschen sind laut ukrainischen Angaben nach der Zerstörung des Staudamms von Überschwemmungen bedroht und die Trinkwasserversorgung von Hunderttausenden sei in Gefahr. Am schwierigsten sei die Lage im Viertel Korabel in der Großstadt Cherson, erklärte der stellvertretende Kabinettschef des ukrainischen Präsidenten, Olexij Kuleba. Das Wasser habe dort einen Stand von 3,5 Metern erreicht, mehr als 1.000 Häuser seien überflutet. "Die Bewohner sitzen auf den Dächern ihrer Häuser und warten auf ihre Rettung. Das sind russische Verbrechen gegen Menschen, die Natur und das Leben an sich."

Kiew macht Moskau für die Sprengung der Staumauer verantwortlich. Der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kislizia sprach bei der kurzfristig einberufenen Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats von einem "Akt des ökologischen und technologischen Terrorismus". Die Sprengung sei "ein weiteres Beispiel für den Völkermord Russlands an den Ukrainern".

Die Ukraine führt nach Angaben von Kislizia derzeit die Evakuierung von 17 Siedlungen mit mehr als 17.000 Einwohnern durch. Bisher sind laut offiziellen Zahlen rund 1.400 Personen gerettet worden. Russland warf Kislizia vor, nur die eigenen Truppen, nicht aber die Zivilisten aus den Überschwemmungsgebieten zu evakuieren. In den besetzten Gebieten müssten insgesamt 25.000 Menschen aus den Gefahrenzonen gebracht werden. Die Dörfer Oleschki und Gola Prystan stünden wohl komplett unter Wasser.

Notstand am östlichen Ufer ausgerufen

Die von Moskau eingesetzten Behörden haben am Mittwoch im von Russland annektierten Teil der ukrainischen Region Cherson den Ausnahmezustand verhängt. Sieben Personen gelten im besetzten Nowa Kachowka nach den Fluten als vermisst. Zudem meldeten die Besatzer, dass die Wassermassen auch von der russischen Armee verminte Felder überschwemmt hätten.

Überschwemmungen in der Südukraine.
AP/Libkos

Frei gespülte Minen bergen eine große Gefahr, denn sie können von den Wassermassen unkontrolliert verbreitet werden und beim Aufprall auf Bäume oder Gebäude detonieren. Es zeichnen sich auch massive Umweltschäden ab. Nach Angaben der ukrainischen Führung sind mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Dnipro gelangt. Auch für die Landwirtschaft ist die Flut laut Kiew katastrophal – nicht nur würden Felder überschwemmt, sondern künftig werde auch das Wasser aus dem Stausee zur Bewässerung fehlen.

Das ukrainische Agrarministerium rechnet ersten Schätzungen zufolge mit der Überschwemmung von etwa 10.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche am nördlichen Ufer des Dnipro in der Region Cherson. Am südlichen Ufer, im russisch besetzten Gebiet, werde ein Vielfaches dieser Fläche überflutet. Die Uno warnt angesichts der wichtigen Rolle Chersons beim Getreidanbau vor verheerenden Konsequenzen für hungernde Menschen weltweit. Für das am nördlichen Ende des Kachowka-Stausees gelegene Atomkraftwerk Saporischschja besteht laut der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) aktuell aber wegen des sinkenden Wasserspiegels im Stausee, der sonst Kühlwasser liefert, dank eines intakten Kühlbeckens keine unmittelbare Gefahr.

Folgen für die Gegenoffensive

Moskau bekennt sich nicht zur Sprengung des Staudamms. Der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja erklärte vor dem Uno-Sicherheitsrat, dass der Vorfall auf "vorsätzliche Sabotage Kiews" zurückzuführen und wie ein Kriegsverbrechen einzuordnen sei. Doch die Experten des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) in Washington gehen davon aus, dass Russland den Staudamm sehr wohl absichtlich zerstört hat. Zugleich weisen sie darauf hin, dass eine endgültige Bewertung der Verantwortung derzeit nicht möglich sei.

Auch der österreichische Militärexperte Markus Reisner vermutet im STANDARD-Gespräch, dass die russischen Besatzer den Staudamm gesprengt haben, um so die geplante ukrainische Gegenoffensive zu behindern. Dem ZDF-"Mittagsmagazin" sagte der Militäranalyst des Bundesheers, dass somit die Anlandung amphibischer Kräfte nicht mehr möglich sei.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj versicherte diesbezüglich, dass die Zerstörung des Dammes keine Auswirkungen auf die Gegenoffensive seines Landes zum Zurückdrängen der russischen Armee haben werde. Unterdessen gingen die Kampfhandlungen weiter. Auch im Katastrophengebiet: In Cherson ist nach Angaben der Behörden durch russischen Artilleriebeschuss ein Mensch getötet worden. (Flora Mory, 7.6.2023)