Sind die fetten Jahre vorbei? In den Augen vieler europäischer Risikokapitalgeber (Venture Capital, kurz: VC) ja. Traditionell setzten Gründerinnen und Gründer auf Investorinnen und Investoren, um möglichst schnell zu skalieren. Einhörner, also Start-ups, die mit mindestens einer Milliarde US-Dollar bewertet wurden, galten als Goldgrube.

Jetzt müssen Start-ups mehr daran tüfteln, wie sie Investorinnen und Investoren für sich gewinnen.
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Mittlerweile ist die Situation nicht mehr so einfach. In der Start-up-Szene werde zwar – so zeigt es der aktuelle Start-up-Trend-Report –in Europa immer noch gern in hoffnungsvolle Branchen wie Biotechnologie oder künstliche Intelligenz investiert, die aktuelle Wirtschaftskrise und Pandemie habe aber durchaus zu einem starken Rückgang bei Investitionen geführt.

Wegen der vielen Unsicherheiten suchen sich Geldgebende ihre Investitionen kritischer, vorsichtiger und durchüberlegter aus. Fachleute sehen hier eine Art Boomerang: Durch die Zurückhaltung der Kapitalgebenden sinken auch die Bewertungen der Start-ups, was wiederum ihre Finanzierungssituation verschärft. Diese Lage zeigen auch die Ergebnisse einer neuen großen Umfragen unter europäischen Investoren zum Status Quo der Industrie.

Das österreichische Risikokapitalunternehmen Speedinvest, zusammen mit der Technischen Universität München, sprachen mit 437 Einzelinvestierenden in Europa und holten sich ihre Einschätzung zum Ökosystem in Europa im Vergleich zum US-amerikanischen Pendant im aktuell herausfordernden Markt. Die Studie soll einen Einblick in die Art und Weise geben, wie europäische Investoren Investitionsentscheidungen treffen.

Kaum noch eine Milliarde wert?

Die Mehrheit, 84 Prozent, der Befragten ist sich laut der Umfrage einig: europäische Einhörner auf dem aktuellen Markt sind überbewertet. Dabei gibt es keinen nennenswerten Unterschied zwischen Kapitalgebern, die bereits ein Einhorn in ihrem Portfolio haben und welche, die keines haben. Sie betrachten drei Faktoren, wenn sie Start-ups bewerten: den voraussichtlichen Exit aus dem Unternehmen, den gewünschten Eigentumsanteil und die Bewertung vergleichbarer Investitionen. 

Investorinnen und Investoren schauen heute außerdem vermehrt auf die Bedeutung von Nachhaltigkeit in Start-ups und bewerten die ESG-Kriterien (Umwelt, Soziales, Governance) immer stärker. Finanzkennzahlen sind nicht mehr alles: Immerhin 13 Prozent der befragten Wagniskapitalgeber gaben an, dass sie bei ihren Investitionsentscheidungen Finanzkennzahlen nicht analysieren. Vor allem wenn neue Unternehmen einen klaren technologischen Wettbewerbsvorteil hätten, der schwer zu kopieren ist, sei das für Investorinnen und Investoren ein wichtiger nicht-finanzieller Faktor, sagt Andreas Schwarzenbrunner, Partner von Speedinvest und Leiter der Studie. "Vor allem in starken Wachstumsmärkten, wie etwa Climate Tech."

Eines der wichtigsten Start-up-Events in Europa für das Sehen und Gesehenwerden, das "Slush" in Helsinki.
EPA/Kimmo Brandt

Auch Vertrieb und Werbung sei für Investierende ein wichtiger Entscheidungsfaktor ob sie sich an einem Unternehmen beteiligen wollen oder nicht, Schwarzenbrunner. "Erreicht das Unternehmen seine potenziellen Kundinnen durch eine besonders smarte oder differenzierte Vertriebsstrategie, und hat hierdurch Wettbewerbsvorteile, so ist das für Investor:innen auch sehr interessant."

Eindruck des Managements zählt

Nach wie vor zähle laut der Studie eisernes Networking um als Start-up wachsen zu können. Fast ein Drittel der befragten Investorinnen und Investoren gaben an, sie würden potenzielle Investitionsmöglichkeiten durch Empfehlungen aus ihrem Netzwerk kennenlernen, knapp 20 Prozent durch Vorstellung durch andere Wagniskapitalfirmen oder Business Angels. Kaum relevant sind für sie etwa Konferenzen oder quantitatives Suchen nach Gründerinnen und Gründern und ihren Start-ups. 

64 Prozent der befragten Geldgeberinnen und Geldgeber waren in der Umfrage der Meinung, der Erfolg eines neuen Unternehmens hänge hauptsächlich vom Managementteam an. Noch mehr der Befragten (71 Prozent) gaben an, die Führung in einem Start-up sei auch der Hauptgrund beim Scheitern und wieder fast die Hälfte der Geldgebenden folgen bei ihrem ersten Treffen mit einem Managementteam ihrem Bauchgefühl, ob sie investieren sollen oder nicht. Der erste Eindruck zählt also oft. Schwarzenbrunner teilt dazu folgende Beobachtung: "Faktoren wie Branchenkenntnis, unternehmerische Erfahrung, Führungsqualitäten, komplementäre Fähigkeiten innerhalb des Managementteams, emotionale Intelligenz und auch die Eigenschaft, schnell aus Fehlern zu lernen, wurden immer wieder genannt."

Nicht nur VCs sind vorsichtiger

Nicht nur Risikokapitalgeber, auch Family-Offices (Eigentümerfamilien mit Großvermögen, ebenfalls häufig Beteiligte an Start-ups) vergeben derzeit deutlich zurückhaltender Investitionen. Nach einem Rekordjahr an Investitionstätigkeiten an Start-ups 2021 sind die Beteiligungen von Family-Offices im Jahr 2022 weltweit schlagartig gesunken. Das zeigen die Ergebnisse der aktuellen "Family Office Deals"-Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC und Family Capital.

Die Studie basiert auf einer Analyse von weltweit 6.530 Family-Offices und gibt Einblick in die diskrete Welt der Vermögensverwaltung von Eigentümerfamilien. Der Gesamtwert fiel um knapp 45 Prozent auf knapp 162 Milliarden Dollar. Die Anzahl der Investments sank um 22 Prozent auf 4.736. Grund für den ersten Rückgang seit elf Jahren ist laut PwC eine risikoscheuere Strategie wegen der unsicheren Wirtschaftslage – ähnlich wie bei anderen Geldgebenden. (mera, 7.6.2023)