Kunstnägel
Finger
Nicht selten sorgen Kunstnägel für Kommentare
Heribert Corn

Ich wohne über einem Nagelstudio. Vor allem Frauen gehen dort ein und aus – abgesehen davon haben die Kundinnen aber nicht viel gemeinsam. Sie sind alt und jung, modisch gekleidet oder leger unterwegs. Ich selbst war noch nie in dem Studio. Ich treibe Kraftsport, da wäre eine professionelle Maniküre rausgeworfenes Geld. Dementsprechend wenig berührt mich das Thema. Und ich hätte erwartet, dass es den meisten Menschen so geht, die selbst nichts mit Nailart anfangen können. Bis eine Kollegin ein Interview mit einer Nageldesignerin veröffentlichte.

Proletendeko

"Gut, dass es diese Proletendeko gibt. Da weiß man ja schon auf größere Entfernung, von wem man sich besser fernhält." Das STANDARD-Forum kochte: "Je länger die Krallen, desto kürzer die Hauptsätze", schrieb ein anderer User.

Laut der US-amerikanischen Genderwissenschafterin Miliann Kang sagt die Maniküre einer Frau tatsächlich mehr über sozial erlernte Geschmäcker als über Eloquenz aus. French Nails oder kurze, pastellfarbene Nägel werden als weiße, heteronormative Mittelklasse gelesen – lange, bunte Kunstnägel hingegen mit marginalisierten Gruppen verknüpft. Die Journalistin Marlen Hobrack schreibt in ihrem autobiografischen Werk Klassenbeste über solche Zuschreibungen: Ein hyperfeminines Äußeres und auffälliges Styling wurden mit der Arbeiterklasse assoziiert. Lange Gelnägel – Proletendeko eben. Genau wie künstliche Haarteile oder mehrfarbige Frisuren. Dabei geht es auch um Selbstverwirklichung: Wer den ganzen Tag am Fließband oder an der Supermarktkasse steht, hat sonst wenig Spielraum für Kreativität.

Und die gesellschaftspolitische Dimension von Kunstnägeln geht noch weiter: So waren Gelnägel und auffällige Maniküre in der Black Community bereits weitverbreitet, lange bevor Nailart im Mainstream ankam. Die schwarze US-amerikanische Sprinterin Florence Griffith-Joyner sorgte in den 1980ern mit ihren zentimeterlangen Airbrush-Nails für beinahe ebenso viel Furore wie mit ihren Olympiasiegen und Rekorden. In der Öffentlichkeit wurde sie wegen ihres auffälligen Stylings exotisiert und sexualisiert. Das hat auch damit zu tun, dass die überlangen Nägel im Kontrast zu einer "nützlichen Weiblichkeit" stehen, sagt die Wiener Kulturwissenschafterin Elisabeth Lechner: "Solche Nägel passen nicht zur Idee der bürgerlichen Frau, der Mama, die im Garten Tomaten anbaut."

Kein Kommentar

Natürlich steht es jedem frei, ob einem künstliche Fingernägel nun gefallen oder nicht. Und auch sie zum feministischen Statement zu erheben ginge zu weit. Doch die Empörung, die Gelnägel auslösen, zeigt misogyne Schönheitsstandards auf: "Es wird immer Blicke und Zuschreibungen geben, über die versucht wird, den weiblichen Körper und die eigene Handlungsfähigkeit einzuschränken", sagt Lechner. Sie selbst urteile deshalb ganz einfach nicht über die Schönheitsarbeit, die andere investieren. Denn ganz ehrlich – was geht es uns an? (RONDO, Antonia Rauth, 14.6.2023)