Der brennende Grenfell Tower.
Wie schnell es bergab gehen kann, wenn Kontrolle, Regulierung und Wartung nicht passieren, sieht man gerade bei Hochhäusern.
APA/AFP/Natalie Oxford

Weitwinkel. Ein Flug über die nordwestlichen Vororte von London an einem Winternachmittag. Man hört Vögel, Autos, Wind. Langsam rückt ein schwarzer Monolith ins Blickfeld. Die Kamera nähert sich, umkreist ihn, immer wieder. Dann Stille. Zoom. Fokus auf leere Fensterhöhlen, auf das, was Wohnungen waren. Die ausgebrannte Ruine des Grenfell Tower, in dem 72 Menschen starben, damals am 14. Juni 2017, als Feuer aus einer Küche durch schlecht isolierte Fenster in die Fassadenpaneele gelangte, deren Schaumstoffkern zum Brandbeschleuniger wurde.

Grenfell, so einfach und klar lautet der Titel des 24-minütigen ungeschnittenen Films, den der Künstler Steve McQueen ein halbes Jahr nach der Katastrophe von einem Helikopter aus aufnahm. Der Oscar und Turner-Prize-Gewinner McQueen wuchs unweit des Grenfell Tower im multikulturellen Nordwesten Londons auf, der Film war seine Reaktion auf die Tragödie. "Wie viele empfand ich Schmerz angesichts einer Tragödie, die nicht hätte passieren müssen, aber die aufgrund von absichtlicher Nachlässigkeit passierte", sagt McQueen.

Nie vergessen

"Ich befürchtete, dass der Turm, sobald er eingehüllt war, aus dem Gedächtnis der Öffentlichkeit verschwinden würde. Ich glaube, vielen wäre das auch sehr recht. Aber ich war dazu entschlossen, ihn nie vergessen werden zu lassen."

Mehr als fünf Jahre hat McQueen gewartet, bis er den richtigen Moment gekommen sah, um seinen Film zu zeigen, im April und Mai dieses Jahres war er in der Serpentine South Gallery zu sehen. Die Zeit schien in der Tat richtig. Kurz zuvor hatte das Stück Grenfell: System Failure Premiere, welches die Ergebnisse der Untersuchungskommission Grenfell Inquiry auf die Bühne brachte, die nach jahrelanger Arbeit kurz zuvor präsentiert worden waren, der offizielle Bericht wird frühestens im Oktober vorliegen.

Karussell des Abwälzens

Die Untersuchung zog genau wie der Film weite und enge Kreise um das Unglück und holte Figuren vor den Vorhang wie ein Theaterstück. Bei seinem Abschluss-Statement im November 2022 fand Kronanwalt Richard Millett ausgesprochen klare Worte: Jeder einzelne Todesfall sei vermeidbar gewesen. Ein "Karussell des Schuldabwälzens" habe er vorgefunden, was er mit einem Diagramm aller Beteiligten illustrierte, mit vielen Pfeilen und Linien zwischen ihnen und ohne Zentrum.

Die Protagonistinnen und Protagonisten: der Hersteller der Fassadenpaneele Arconic, der wusste, dass das Material bei Hochhäusern gefährlich war, sich aber als "völlig schuldlos" bezeichnete und über eine Million Pfund pro Monat für Anwälte ausgab. Der Hersteller der brennbaren Isolierschicht, Celotex, der die Schuld zu Arconic zurückschob. Die Baufirma, die sich überhaupt keiner Schuld für irgendetwas bewusst war. Die Brandforscherin, deren Institut schon im Jahr 2001 baugleiche Paneele getestet hatte, die innerhalb von fünf Minuten in hohen Flammen standen. Danach, sagte sie, habe sie erwartet, dass diese Paneele nie an Hochhäusern verwendet würden. Es habe aber auch niemand die Warnung an die Industrie weitergereicht.

Fehlende Kontrollen

Dann der Beamte, der vergaß klarzustellen, ob die behördlichen Brandschutzregeln das brennbare Füllmaterial verboten oder nicht und auf eine Mail mit Warnungen vor einer möglichen Katastrophe nicht reagierte. Seine Vorgesetzte, die bedauert, dass die geplante Überarbeitung der Regeln nach einem früheren tödlichen Hochhausbrand mehrfach verschoben wurde, und diagnostizierte, die Regierung habe nicht anerkannt, dass es so etwas wie systemische Verantwortung gibt.

Lord Eric Pickles, als Wohnbauminister von 2010 bis 2015 Vertreter dieser Regierung, erinnerte den Kronanwalt gleich zu Beginn seiner Vernehmung, dass er noch Termine habe und man ihn nicht zu lange aufhalten sollte, vertat sich bei der Anzahl der Toten und behauptete, seine Tatenlosigkeit habe mit der Politik der Deregulierung nichts zu tun gehabt. Das habe es sehr wohl, so der Kronanwalt, nämlich "einen Enthusiasmus der Regierung für Deregulierung" gegeben, "die zu einer völligen Abwesenheit von Kontrollen geführt" habe.

Gefährliches Laissez-faire

Die Diagnose des Kronanwalts trifft ins Schwarze. Deregulierung ist das Mantra der britischen Konservativen. Schon Premier David Cameron hatte in seiner Amtszeit angekündigt, "verrückte" Regulierungen wie manche Umweltschutzbestimmungen abzuschaffen und die damals rund 100 Normen für BauStandards auf zehn zu reduzieren. Mit dem Brexit ist das Mantra vom "removal of red tape" zum Choral geworden, und auch im aktuellen Regierungspapier findet es sich. Jedoch ist, wie die British Chambers of Commerce (BCC) im Dezember 2022 bestätigten und wie die endlosen Lastwagenkolonnen vor Dover zeigen, die Bürokratie mehr geworden statt weniger.

Was passiert, wenn das Laissez-faire mehr zählt als die Kontrolle, sieht und riecht man seit Jahren an Englands Gewässern: Ende Mai wurde eine Studie veröffentlicht, laut der im letzten Jahr elf Millionen Liter ungeklärtes Abwasser direkt in Flüsse und ins Meer geleitet wurden. Das sei, so Aktivistinnen, "das Ergebnis von 30 Jahren fehlender Investition in Infrastruktur und einem Versagen von Kontrolle und Regulierung". Das Problem ist seit langem bekannt, ein Gesetzesvorschlag zu Verbesserungen wurde 2021 von konservativen Parlamentariern abgelehnt.

Stigmatisierung oder Abrissbirne

Kontrolle, Regulierung, Wartung: Das sind die langweiligen Aspekte von Architektur und Infrastruktur, zu denen es keine schönen Bilder gibt und die daher gerne Opfer von Rationalisierungsforderungen werden. Aber das alltägliche Kümmern um das Funktionieren ist so etwas wie das geheime Herz des guten Wohnens. Ein stiller Erfolgsfaktor des von vielen beneideten kommunalen und gemeinnützigen Wiener Wohnbaus sind die Hausverwaltungen, die die Gebäude laufend instand halten.

Wie schnell es bergab gehen kann, wenn das nicht passiert, sieht man gerade bei Hochhäusern. So war es bei Ricardo Bofills postmodernem Wohngebirge Abraxas bei Paris unter anderem der Ausfall der Lifte über mehrere Tage, der den rapiden Absturz vom begehrten Beton-Versailles zum Brennpunktviertel einleitete. Manchen Politikern kommt das durchaus gelegen, denn auf einen sozialen Brennpunkt kann man mit dem Finger zeigen, und seine Stigmatisierung ebnet entweder der Abrissbirne oder der Katastrophe den Weg. Und das Karussell des Schuldabwälzens dreht sich weiter. (Maik Novotny, 11.6.2023)