Die Autorin Marlene Knobloch.
Theresa Haugg

Die Liste an Vorwürfen, die Marlene Knobloch den knapp Dreißigjährigen, also ihrer und meiner Generation, in ihrer Essaysammlung Serious Shit macht, ist lang: Wir würden zu viel Zeit am Handy verbringen und nur noch gelangweilt durch unsere Timeline scrollen. Nichts sei uns wichtiger als wir selbst.

"Wirkliche" Probleme

Vor lauter Selbstoptimierung haben wir die – wie Knobloch findet – wirklichen Probleme aus den Augen verloren. Sie fragt deshalb ernsthaft: "Warum stritten wir in den Zehnerjahren so wenig über Putin? Warum interessierte uns das nicht mindestens genauso wie Sexismus, Feminismus und Antirassismus?"

Diese moralisierenden Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch der 28-jährigen Autorin, die als Journalistin unter anderem für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung schreibt. Serious Shit sei entstanden, schreibt sie, weil sie den Überblick über die eigene Geschichte verloren habe. "Weil man mich auf eine andere Welt vorbereitet hat als auf die, die jetzt vor mir liegt." In fünf kurzen Kapiteln beschreibt sie, wie sich ihr Leben ab dem 24. Februar 2022 veränderte.

Wo ist Osteuropa?

Es war der Tag, an dem Putins Truppen in die Ukraine einmarschiert sind. Für Knobloch eine Zäsur. Plötzlich sah sich ihre Generation mit einem Krieg mitten in Europa konfrontiert. Eine Generation, die, glaubt man der Autorin, erst einmal googeln musste, wo Osteuropa überhaupt liegt: "Wir staunen über dieses Gebiet und unsere geringe Kenntnis und fahren im sorgenvollen Geist die Grenze bis Polen entlang." Beim gemeinsamen Aperol Spritz unterhielt man sich nicht mehr über Job, Beziehung oder Urlaub, sondern das Weltgeschehen. Schmerzlich stellt Knobloch fest, dass liberale Demokratien keine Selbstverständlichkeit sind.

Doch niemand will sich darum kümmern, schon gar nicht "wir". Wir, das sind Knobloch, ich, die restlichen Dreißigjährigen. "Statt uns zu organisieren, trotzen wir dem System mit maximaler Freizeiterhöhung, mit genau dem Engagement, das uns gerade in den Kram und die Phase passt", so der nächste Vorwurf. In einer wirren Aneinanderreihung von Themen – Ghosting, Hitler, Layla – macht Knobloch immer wieder das neoliberale System dafür verantwortlich, dass wir so geworden sind, wie wir sind. Nach dem Motto: Du bist, was du leistest. Am Ende hat sie aber erst wieder keine bessere Frage parat als: "Was wollen wir Jungen leisten?"

Marlene Knobloch, "Serious Shit". € 12,– / 112 Seiten. dtv, München 2023.
Verlag

Comeback des Stammtischs

Serious Shit ist Whataboutism par excellence. Kulturelle Aneignung, Identitäts- oder Geschlechterpolitik werden fortlaufend gegen Krieg – vorausgesetzt er findet in Europa statt –, Inflation, Erderwärmung und Pandemie aufgewogen. Krisen werden von Knobloch nicht gemeinsam gedacht.

Was also tun gegen die düsteren Zukunftsaussichten unserer Generation? Laut Knobloch braucht es eine ordentliche Form des Diskurses, aber nicht auf Twitter, Instagram oder Tiktok, sondern am Stammtisch. In einem Interview mit der Schweizer Tageszeitung NZZ hat die Autorin diesen Vorschlag bekräftigt: "Wir müssen wieder Zeitung lesen und Orte aufsuchen, an denen wir miteinander ins Gespräch kommen. Den Stammtisch zum Beispiel." Knobloch mag nicht viel von moralisierenden Tweets halten, ihr Debüt klingt aber ganz danach. (Anna Wielander, 10.6.2023)