Die Schnauze eines schwimmenden Krokodils.
Ein Spitzkrokodil-Weibchen (Crocodylus acutus) produzierte einen entwickelten Fötus, ohne von einem Männchen befruchtet worden zu sein.
APA/AFP/LUIS ACOSTA

Vor fünf Jahren bot sich Mitarbeitern eines Reptilienparks in Costa Rica ein ungewöhnlicher Anblick. Ein Gelege von Krokodileiern ist dort nicht per se etwas Besonderes, doch in diesem Fall hielt sich im Gehege ausschließlich ein 18-jähriges Krokodilweibchen auf, das über 16 Jahre keinen Kontakt zu Männchen gehabt hatte. Nun erschien die wissenschaftliche Studie zu dem faszinierenden Fund. Sie brachte die Gewissheit, dass sich das Krokodil quasi selbst geschwängert hatte. Ein Fötus, der sich in einem der Eier zur Gänze entwickelt hatte, aber nicht geschlüpft war, war genetisch zu 99,9 Prozent mit seiner Mutter ident, berichtet ein Forschungsteam im Fachjournal "Biology Letters".

Dabei handelt es sich um den ersten bekannten Fall einer sogenannten Jungfernzeugung, fachsprachlich Parthenogenese, bei einem Krokodil. Ein solches Verhalten ist in der Tierwelt nicht ungewöhnlich. Etliche Spezies, bei denen sich männliche und weibliche Geschlechtsorgane unterscheiden lassen, können auch das Geschlecht wechseln, beide Organe besitzen (Hermaphroditismus) und sich teils selbst befruchten, oder sie werden asexuell schwanger, ohne dass männliche Keimzellen im Spiel sind. Unter Wirbeltieren wurde die Parthenogenese in manchen Fällen bei Vögeln, Fischen und Reptilien nachgewiesen, die sich meistens sexuell vermehren. Säugetiere sind natürlicherweise nicht zur Jungfernzeugung in der Lage.

Kein Klon

Auch bei dem Spitzkrokodil-Weibchen in Costa Rica entwickelten sich aus Eizellen Embryos, ohne dass zuvor Spermien die Eizellen befruchteten. Dass das Weibchen langfristig Sperma "gebunkert" und so seine Eizellen verspätet befruchtet hatte, hielten die Fachleute für unwahrscheinlich. Diese Taktik funktioniert bei Wirbeltieren üblicherweise nicht für eine so lange Zeit wie 16 Jahre: Bisher wurde eine maximale Dauer von sechs Jahren beobachtet, und zwar bei einer Klapperschlange.

Der Nachwuchs des "jungfräulich" schwangeren Krokodils schlüpfte nicht aus den Eiern, dürfte aber prinzipiell lebensfähig gewesen sein, sagte Erstautor und Parthenogenese-Experte Warren Booth von der Universität Virginia Tech in den USA gegenüber dem "New Scientist". Nach dem Fund der 14 Eier wurden einige davon in einen Brutapparat gesteckt, da es aussah, als hätte sich im Inneren ein Fötus entwickelt. Als klar war, dass sie nicht schlüpfen würden, öffneten Fachleute die Eier und entdeckten in einem davon den sehr weit entwickelten Fötus eines Weibchens.

Ein zusammengerollter Krokodilfötus.
Dieser Krokodilfötus entwickelte sich aus der Jungfernzeugung.
Quetzal Dwyer

Ein Vergleich der Zellen aus dem Herz des Fötus und jenen der abgeworfenen Haut der Mutter zeigte, dass die beiden Individuen genetisch zu 99,9 Prozent ident waren, also auch kein Sperma im Spiel war. Streng genommen handelt es sich aber nicht um einen Klon des Mutterkrokodils, betont Booth. Von anderen Wirbeltieren wisse man, dass sich bei der Jungfernzeugung eine Eizelle mit einem sogenannten Polkörper vereinigt.

Polkörper entstehen bei der Reifeteilung einer Eizelle und haben gleich viel genetisches Material. Aber während die Eizelle sehr groß ausfällt und beim Menschen als einzige Zelle des Körpers mit dem bloßen Auge erkennbar ist, verkümmern die Polkörper normalerweise zu kleinen Anhängseln. Wenn nun etwa beim Spitzkrokodil ein Polkörper und eine Eizelle fusionieren, kommen zwei Zellen mit jeweils halbierter mütterlicher DNA zusammen. Allerdings kann es bei der Eizellbildung zu genetischer Rekombination kommen, also zu kleinen Unterschieden zwischen dem Erbgut im Polkörper und jenem der Eizelle.

Taktik am Rande des Aussterbens?

Übrigens hätte es auch sein können, dass sich der entstandene Fötus zu einem Männchen entwickelt. Bei Krokodilen wird das Geschlecht nicht durch bestimmte Chromosomen festgelegt, sondern durch die Temperatur im Nest. Hat ein Ei es mit 34 Grad Celsius recht warm, entsteht ein Männchen, bei weniger als 30 Grad ein Weibchen.

Fünf Krokodileier in einer Tonschale auf Sand, etwas größer als übliche Hühnereier, gehalten von zwei Händen.
So sehen Eier der verwandten Krokodilspezies Orinoko-Krokodil (Crocodylus intermedius) aus.
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Weshalb es überhaupt manchmal zur asexuellen Fortpflanzung kommen kann, obwohl sich eine Spezies meist sexuell vermehrt, ist nicht ganz klar. Naheliegend wäre die Idee, dass das 16 Jahre alleingebliebene Krokodilweibchen eigenständig für Nachwuchs sorgte, weil so lange kein Männchen zur Verfügung stand. So könnte bei Populationen unter erschwerten Bedingungen, etwa am Rande des Aussterbens, noch eine weitere Generation entstehen.

Booth gibt jedoch zu bedenken, dass sich in manchen Spezies Weibchen asexuell fortpflanzen, auch wenn es viele Männchen gibt. Hier sei weitere Forschung nötig. Auf molekularer Ebene nimmt der Wissenschafter an, dass der Mechanismus durch ein einzelnes Gen kontrolliert wird, das beispielsweise durch Hormone aktiviert wird.

Asexuelle Dinosaurier

Das Studienteam folgert aus dem neuen Fall: Jungfernzeugung könnte schon bei gemeinsamen Vorfahren von Krokodilen, Schlangen, Echsen sowie Vögeln, unter denen sich etwa Hühner und Tauben asexuell fortpflanzen können, vorgekommen sein. Diese Vorfahren lebten vor mindestens 267 Millionen Jahren. Damit könnten Mitglieder der Gruppe der Dinosaurier und der Flugsaurier über diese Strategie verfügt haben.

Ein Mann füttert ein Krokodil im Schlamm, am Rande eines Abhangs.
In Costa Rica kommt das Spitzkrokodil in freier Wildbahn vor.
APA/AFP/LUIS ACOSTA

Ob sich dies jemals nachweisen lässt, ist eine schwierige Frage. Man müsste wohl auf ein Sauriernest mit der in der Nähe verstorbenen Mutter stoßen und ihr Erbgut mit dem der Eier vergleichen, falls dies eines Tages möglich ist – alles in allem also ein Fall, der Zukunftstechnologie und viel Glück erfordert.

Immerhin dauerte es selbst bei Krokodilen bis jetzt, dass Jungfernzeugung dokumentiert werden konnte. "Als die Menschen anfingen, Schlangen als Haustiere zu halten, gab es einen starken Anstieg der Berichte über Parthenogenese", sagte Booth der BBC. "Aber der durchschnittliche Reptilienhalter hält sich kein Krokodil." (Julia Sica, 10.6.2023)