Das Thema Schreiben oder Geschriebenwerden beschäftigt auch die Jugendliteratur.
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KI ist nicht erst seit ChatGPT längst Teil unseres Alltags geworden – und bestimmt täglich ein Stück mehr davon mit. Aber wie funktioniert das alles überhaupt? Manfred Theisen zum Beispiel liefert in einem Sachbuch für Menschen ab zehn eine Fülle an Belegen für den real existierenden Digitalismus – und die Antworten auf eine Vielzahl von Fragen: Was ist ein Algorithmus? Wie lernen Computer? Was sind soziale Roboter? Und was Cobots? Das "Tal der Fremdheit"? Wie hängt all das mit Fake News, Propaganda und Populismus zusammen? Was geht da in China gerade ab?

Der Reihentitel der Loewe-Sachbücher, "einfach erklärt", ist Programm – und doch wird es kaum jemanden geben, der hier nichts Neues erfährt. Seien es Grundlagen wie die Differenzierung von "supervised", "unsupervised" und "deep learning" oder Infobits wie die Statistik, dass von 200 Millionen Tweets zu Corona im Jahr 2020 82 Prozent von Bots veröffentlicht wurden oder geparkte Teslas im Wächtermodus alles und vor allem jeden in ihrer Umgebung filmen. Hervorragend recherchiert, mit klaren Infografiken ansprechend aufbereitet, immer einfach, nie simpel, empfiehlt sich die jüngste Ausgabe der Sachbuchreihe zum Thema der Stunde – und der kommenden Jahre.

Manfred Theisen, "Künstliche Intelligenz – Fake News – Unsere digitale Zukunft". € 15,40 / 174 Seiten, Loewe- Verlag, 2023. Ab zehn.
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Willkommen in der Matrix

Wie Fake News und KI zusammenhängen, zeigt das folgende Experiment: Bereits 2018 erschien in der Comic-Bibliothek des Wissens der Band Künstliche Intelligenz von Jean-Noël Lafargue und Marion Montaigne. Darin wird ein Roboter in die Vergangenheit geschickt, um das verlorene Gedächtnis der Menschheit wiederzuerlangen. Das liefert den Rahmen dafür, die Geschichte der Entwicklung künstlicher Intelligenz von den Automaten des Mittelalters über den 2011 bei der US-Quizshow Jeopardy siegreichen IBM-Computer Watson bis in die Gegenwart der Transhumanisten und Fans des Human Brain Project aufzurollen. Dabei wird teilweise mit Witzen so aufgedreht, dass die ausgiebig vorhandene Wissensvermittlung verlorenzugehen droht. Kurzweilig ist es allemal, der Glupschaugen-Zeichenstil ist Geschmackssache. Warum dieser Band, der vor fünf Jahren erschienen ist, unverändert Relevanz hat?

Wir haben ChatGPT gefragt ("Beschreibe mir das Comic Künstliche Intelligenz von Jean-Noël Lafargue") und wollten der KI, der ja keine Daten nach 2021 vorliegen, eine faire Chance geben. Was herauskam: "Die Handlung spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der künstliche Intelligenzen (KI) einen immer größeren Einfluss auf das tägliche Leben haben. Der Hauptcharakter ist ein junger Mann namens Paul, der als Programmierer für eine Firma arbeitet, die sich auf KI-Entwicklung spezialisiert hat."

Eine KI namens Adam

Paul wird die Sache langsam zu heiß, Stichwort Technikfolgenabschätzung. Weiter wird ein kompletter, wenn auch reichlich sinnbefreiter Plot entwickelt: Paul trifft eine KI namens Adam, die Bewusstsein erlangt hat und die Abschaltung fürchtet, bevor sie "die Kontrolle übernimmt". Gemeinsam gehen sie gegen die Firma vor, die die KI-Entwicklung um jeden Preis dahin bringen will, wo Adam bereits ist. Na ja. Das ChatGPT-Fazit: "Der Comic behandelt viele komplexe Themen, darunter Bewusstsein, Ethik und Verantwortung in Bezug auf KI." Tut er nicht. "Die Charaktere sind gut entwickelt und sympathisch." Nur dass es halt keinen dieser Charaktere in dem Comic gibt und die einzige wahre Aussage der künstlichen Idiotie das Erscheinungsjahr 2018 ist.

Ein klarer Fall von Halluzination, wie derartiges KI-Verhalten genannt wird: Anstatt ihr Unwissen einzugestehen, erfindet die Maschine hemmungslos frei. Warum sie das tut, ist unbekannt. Mögliche Erklärungsansätze: Sie folgt ihrer männlich dominierten Programmierung und zieht deshalb Mansplaining dem Eingeständnis von Unwissenheit vor. Das wäre die gute Nachricht, daran wird gearbeitet. Sie ist geisteskrank. Das wäre besorgniserregend, aber behandelbar. Sie lügt. Dann hätte sie auch einen Grund dafür, verfolgte eine Absicht. Willkommen in der Matrix.

Jean-Noël Lafargue, Marion Montaigne, "Künstliche Intelligenz". € 14,40 / 76 Seiten, Jacoby & Stuart, 2018. Ab 14.
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Glückliche Paradiese

Damit zu den aktuellsten fiktionalen Aufarbeitungen des Themas, die sich mit genau solchen dystopischen Szenarien beschäftigen. In Martin Schäubles Godland. Dein ewiges Leben hat einen Preis ist die Oberfläche des Planeten ein unbewohnbarer Dreckhaufen, weshalb sich bereits seit Jahrzehnten die Wohlhabenden ins Godland verabschiedet haben: In diesem digitalen Paradies lebt ihr hochgeladenes Bewusstsein laut Werbeversprechen "glücklich und ewig".

Freilich braucht es noch ein paar "Analoge", Menschen aus Fleisch und Blut, Klimakriegsflüchtige, die in der tristen Wirklichkeit auf Serverinseln ihren Dienst tun, um sich nach 20 langen Jahren ihren Upload zu verdienen. Die gigantische Simulation Godland braucht schließlich quasi unermessliche Rechenkapazitäten – und eine allwissende, alles überwachende und kontrollierende KI.

Godmother ist genau das, allmächtige, strafende Göttin und umsorgende Mutter, besonders für Yolanda, die ihre echte Mutter verloren hat und nichts anderes kennt als den Dienst auf der Serverinsel. Der von Jahr zu Jahr mühsamer wird: Die Anlage verfällt, Fehler und Reparaturen häufen sich, Ressourcen schwinden.

Martin Schäuble, "Godland. Dein ewiges Leben hat einen Preis". € 15,50 / 328 Seiten. Fischer KJB, 2023. Ab zwölf.
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Göttliche Allmacht?

Viel bemerkenswerter aber: Eine schreckliche Tragödie ereignet sich, und Godmother legt Yolanda dar, was sie darüber erzählen darf. Die seelenlose Message-Control ist nichts anderes als eine glatte Lüge, und Yolandas unbeirrbarer Glaube an Godland und Godmother bekommt erste Risse.

Der spannende Science-Fiction-Abenteuerroman wirft im Subtext philosophische Fragen auf: Hat die KI tatsächlich Allmacht – oder haben wir uns diese "Gottheit", wie jene der Religionsgeschichte, selbst erschaffen und ihr die Macht gegeben durch unseren Glauben an sie? Was, wenn wir stattdessen wieder an uns selbst glauben? Wird das Erschaffene dann – abgeschafft?

Karl Olsberg, "Infernia". € 17,50 / 368 Seiten. Loewe-Verlag, 2023. Ab 14.
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Ewiger Krieg

Selbstverständlich, ist man versucht zu sagen, ist auch Karl Olsberg mit einer Neuerscheinung am Start: Der Betriebswirt und Unternehmensberater promovierte über künstliche Intelligenz und macht diese immer wieder zum zentralen Thema seiner zahlreichen Bücher für Jugendliche und Erwachsene, die er seit 20 Jahren veröffentlicht. Mit Infernia erweist er sich einmal mehr als Master of the Art: Heldin der Geschichte ist Emma, die auch dank neuester Simulationstechnik völlig aufgeht im Computerspiel Infernia. Dort herrscht buchstäblich ewiger Krieg: Würde eine Seite gewinnen, wäre dem Spiel die Grundlage entzogen. Bei einer Mission trifft sie auf Leutnant Jero Kramer: ein guter Soldat, wie Emma findet, klug, umsichtig, empathisch. Dass zwei seiner Kameraden in Gefangenschaft gerieten, nimmt ihn sichtlich mit. Er leidet … aber halt, Jero Kramer gibt es doch gar nicht. Er ist ein NPC ("non-player character") des Games, besteht nur aus Bits und Bytes und kann demnach nichts fühlen. Richtig? Falsch, findet Emma und engagiert sich für die Rechte entwickelter künstlicher Wesenheiten. Wenn NPCs empathiefähig sind, ist dann nicht jedes Spiel, in dem sie zum Gaudium der Gamer gefoltert und massakriert werden, ein unerträgliches Verbrechen? Emma erfährt den Grund, warum das sündteure Spiel eigentlich betrieben wird, aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. Das Setting von Infernia ist nur einen Schritt weit in der Zukunft angesetzt, und so sind auch die in dem atemlosen Thriller mit Lesesuchtpotenzial aufgeworfenen Fragen zum Umgang mit KIs hochaktuell. Was wir ihnen beibringen, mit welchen Daten wir sie füttern, wird bestimmen, wie sie denken. Welche Werte sie zur Richtschnur ihres Handelns machen. Wir sollten also besser den guten Wolf füttern. Nur für den Fall. (Helmuth Santler, 11.6.2023)