Noch hat Kreml-Chef Wladimir Putin sein Land im Griff.
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Letztendlich geht es um einen Mythos. Den Mythos von Stärke, von Unbesiegbarkeit. Werte, die die russische Gesellschaft zusammenschweißen. Auch wenn am Montag, am "Tag Russlands", dieser Mythos gefeiert wird: Er hat längst Risse bekommen. Und das wird zunehmend zum Problem für Russlands Präsidenten Wladimir Putin.

Seit dem Jahr 2000 steht er – mit einer kurzen Unterbrechung – an der Spitze des Staates. Die junge Generation kennt keinen anderen Präsidenten. Putin hat Russland aus dem Chaos der 1990er-Jahre herausgeführt. Aus der tiefen Wirtschaftskrise nach dem Zerfall der Sowjetunion, den Oligarchenkriegen, den Morden, den Bombenattentaten. Putin hat einen modernen Staat aufgebaut, über viele Jahre prowestlich orientiert und mit viel bürgerlicher Freiheit. Davon ist fast nichts mehr geblieben. Längst ist die Opposition im Ausland oder im Straflager. Sogar die Umweltschutzorganisation Greenpeace wurde kürzlich als "unerwünscht" quasi verboten.

Über ein Jahr lang war für die Russen die "Spezialoperation" in der Ukraine weit weg. Jetzt ist der Krieg ganz nah. Die jüngste Drohnenattacke auf Moskau und vor allem der ständige Beschuss der Grenzregion bei Belgorod durch die Ukrainer "zerstören endgültig den Mythos der Unbesiegbarkeit von Putins Militär", meint der Politologe Abbas Galljamow. Für viele Russen sei der Glaube an die Stärke russischer Waffen stets das wichtigste Kriegsargument gewesen. Galljamow sagt, der Machtapparat verliere durch nichts so sehr an Rückhalt wie durch die Unfähigkeit, die Menschen zu schützen.

Situation "alarmierend"

In Belgorod hatten Kreml-feindliche Kämpfer eigenen Angaben zufolge zwischenzeitlich den 5000-Einwohner-Ort Nowaja Tawolschanka komplett unter ihre Kontrolle gebracht – wohl mit Unterstützung durch die ukrainische Armee, was Kiew aber dementiert. Der Gouverneur von Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, räumte nach tagelangem Beschuss des Gebiets indirekt ein, nicht mehr Herr der Lage zu sein.

Und der russische Präsident? Putins Sprecher Dmitri Peskow sagt, die Situation in der Region sei zwar "alarmierend", aber unter Kontrolle. Vielen Menschen in Russland ist das zu wenig. An die Spitze der Kritik setzt sich – wieder einmal – Jewgeni Prigoschin, der Chef der Söldnertruppe Wagner. Er drohte mit dem Einmarsch seiner Leute, sollte das Verteidigungsministerium dort nicht "schleunigst" Ordnung schaffen. "In dem Ministerium herrscht Chaos", meint Prigoschin. "Es läuft schon eine Eroberung des Gebiets." Friedliche Menschen würden sterben. Die Bevölkerung brauche Schutz. "Wir werden nicht auf eine Einladung warten." Allerdings müsse das russische Militär Munition bereitstellen. "Sonst sitzen wir, wie es heißt, mit dem nackten Arsch auf dem Frost."

Bilder vom Krieg gegen die Ukraine, zuletzt etwa jene von den Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms, beunruhigen auch in Russland immer mehr Menschen.
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Verstörende Bilder der Flut

Ungestraft darf wohl nur der Wagner-Chef das Militär so harsch kritisieren. Andere säßen dafür längst schon auf Jahre im Straflager. Doch Prigoschins Kämpfer gelten als Erfolgsmodell. Gerade haben sie nach blutigen Kämpfen Bachmut erobert und ihre Stellungen regulären russischen Truppen übergeben. Seitdem machen ukrainische Truppen wieder leichte Geländegewinne in der Region.

Weil Wladimir Putin gegen die Ukraine Krieg führt und nun nicht einmal die Sicherheit des eigenen Staatsgebiets gewährleisten kann, wächst die Verunsicherung auch vieler patriotisch eingestellter Russen. Jüngstes Beispiel: die Zerstörung des Kachowka-Staudamms. Beide Seiten beschuldigen einander in der Sache. Kiew will nun einen Beweis dafür haben, dass Russland verantwortlich sei. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU erklärte am Freitag, er habe ein entsprechendes Telefonat russischer Truppen mitgeschnitten. Doch selbst wenn die Ursache nur Nachlässigkeit oder schlampige Wartung des Damms durch russische Soldaten war, wie manche Experten vermuten: Tausende Häuser sind zerstört, viele Russen in den besetzten Gebieten sind auf der Flucht. Die Fernsehbilder beunruhigen die Menschen auch in Russland.

Neu ist, dass nunmehr auch Kritik aus der Elite kommt. Margarita Simonjan, Chefredakteurin des Staatssenders RT, spricht in einer Talkshow von Waffenstillstand in der Ukraine, von "Referenden in den umstrittenen Gebieten". Kreml-freundliche Medien und Blogger diskutieren darüber. Der frühere Chef der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos, Dmitri Rogosin, verlangt neue Mobilmachungswellen. Ramsan Kadyrow, Anführer der Teilrepublik Tschetschenien, fordert wie Prigoschin die Verhängung des Kriegsrechts, um härter durchzugreifen. Sie warnen vor einer Niederlage Russlands in dem Krieg mit zerstörerischen Folgen für das ganze Land.

Der prominente Duma-Abgeordnete Konstantin Satulin von der Kreml-Partei Geeintes Russland kritisiert ein Versagen auf ganzer Linie. Kein einziges der vom Kreml ausgegebenen Kriegsziele sei umgesetzt: weder eine Entmilitarisierung der Ukraine noch deren Neutralität noch ein besserer Schutz der Menschen im Donbass. "In welchem der Punkte haben wir ein Ergebnis erreicht? In keinem einzigen", sagt Satulin, der eigentlich als Befürworter der "Spezialoperation" gilt.

Zustimmung sinkt

Doch Putin zögert. Kreml-Sprecher Peskow betont, weder das Kriegsrecht noch eine neue Mobilmachung würden derzeit diskutiert. Doch daran zweifeln viele Russen. Die Zustimmung zu Putin ist zwar nach wie vor hoch, aber laut einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Instituts glauben 56 Prozent der Befragten, eine zweite Teilmobilisierung würde in den nächsten drei Monaten kommen.

Die Befragung wurde Ende April durchgeführt. Schon damals wurde Belgorod aus der Ukraine beschossen, ein russisches Kampfflugzeug hatte irrtümlich die eigene Stadt bombardiert. Bei einer neuerlichen Umfrage im Mai glaubten zwar noch 61 Prozent der Menschen, die "Spezialoperation" gehe erfolgreich voran. Doch 71 Prozent denken, dass diese noch länger als sechs Monate dauern werde – drei Prozent mehr als noch im Jänner.

Anscheinend hat nun die immer wieder verschobene Gegenoffensive der ukrainischen Armee begonnen. Darüber spekulieren zumindest US-Medien. Spätestens jetzt braucht Wladimir Putin dringend neue militärische Erfolge. Und die meldet das russische Verteidigungsministerium fast täglich. Der erste Abschuss eines Leopard-2-Panzers deutscher Herkunft scheint jetzt bestätigt. Deutsche Panzer, die auf russische Soldaten schießen: Seit dem Zweiten Weltkrieg ist dies in Russland ein Trauma.

Die UkrainerInnen versuchen, vor den Massermassen zu fliehen.
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Mähdrescher statt Panzer

Doch manchmal sind die Erfolgsmeldungen auch vorschnell. Bereits früher hatte man die Zerstörung von Leopard-Panzern vermeldet. Das Beweisvideo analysierten russische Militärblogger.

Sie kamen zum Schluss: Abgeschossen habe man keinen deutschen Panzer, sondern einen Mähdrescher des US-Herstellers John Deere. Wagner-Chef Prigoschin kommentierte das Video hämisch. Die russische Panzerabwehr leiste "eine beeindruckende" Arbeit: "Diese Aufnahmen zeigen deutlich, wie sich die Leopard-Panzer in einem seltsamen taktischen Manöver aufeinander zubewegen. Diese Panzer sind als landwirtschaftliche Erntemaschinen getarnt."

Russlands Präsident Wladimir Putin steht unter Druck. Im kommenden März sind im Land Präsidentschaftswahlen. Putin wird sie gewinnen. Doch der über 70-Jährige sollte bald seinen Nachfolger bestimmen, meint der Politologe Abbas Galljamow. "Je schwächer der Präsident sein wird, wenn er den Namen seines Nachfolgers bekanntgibt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich einige Gruppen der Eliten weigern, diesem zu gehorchen." Und dies könnte die Atommacht Russland ins Chaos führen. (Jo Angerer aus Moskau, 10.6.2023)