Tour de France
In der Serie begleitet man Radprofis über Alpen und Pyrenäenpässe. Das ist überraschend unterhaltsam.
A.S.O./Charly Lopez

Wie gewinnt man die Tour de France, das prestigeträchtigste Radrennen der Welt? Marc Madiot stellt eine simple Formel auf. "Das Leiden", sagt er, "ist der Schlüssel und das Herzstück des Radsports. Man muss mehr Schmerzen aushalten können als andere." Madiot ist der Chef des Radrennstalls Groupama-FDJ und ein Protagonist der Netflix-Serie Tour de France: Im Hauptfeld, die dieses Leiden in Szene setzen will. Das gelingt, denn die Serie ist alles andere als anstrengend, sie macht Lust auf Radrennen.

Im Weltsport hat sich quasi ein Wettrennen um Aufmerksamkeit unter den Sportarten ergeben. Die Produktionsfirma Box to Box hat mit der Formel-1-Serie Drive to Survive ein Rezept erschaffen, neue Zielgruppen zu finden. Andere Verbände möchten es nachkochen. Im Tennis ist das durch die melancholische Produktion Break Point mäßig gelungen, im Golf brachte Full Swing vereinzelt originelle Folgen zutage.

Tour de France: Im Hauptfeld soll dem Radsport einen Boost an Marktanteilen bescheren. Die Ausrichter der Frankreich-Rundfahrt gaben Box to Box Zugänge hinter die Kulissen der Tour de France 2022. Acht der 22 Teams wurden jeweils mit einer eigenen Filmcrew begleitet, eine weitere fing das ganze Renngeschehen ein. Die Rennställe erlaubten Zutritt zu Teambus, Hotels und Trainingscamps und erhielten im Gegenzug rund 60.000 Euro — und eine Plattform zur Vermarktung. Die Veranstalter der Tour erhielten eine Viertelmillion, ebenso wie das französische Fernsehen, das Material aus den Übertragungen der Etappen bereitstellte. Insgesamt soll Netflix für die Produktion acht Millionen Euro ausgegeben haben.

Radrennställe dürfen zwei Sponsoren im Namen tragen. Da Titelsponsoring am lukrativsten ist, machen das viele auch; die Teams tragen absurd verschachtelte Namen wie Quick-Step Alpha Vinyl oder EF Education-EasyPost.

Tour de France: Unchained | Official Trailer | Netflix
Through tears and triumph, this series follows several cycling teams as they compete in the 2022 installment of the world's most grueling bike race. SUBSCRIBE: http://bit.ly/29qBUt7 About Netflix: Netflix is one of the world's leading entertainment services
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Drei Arten von Tränen

Die Serie stellt mehrere Fahrer in gelungenen Kurzporträts vor. Hier etwa der französische Liebling und ewige gescheiterte Thibaut Pinot, der auf einem Bauernhof lebt und Zicklein füttert. Da der schusselige Belgier Jasper Philipsen, dem sie den Spitznamen "Desaster" verliehen haben, weil er gerne den Helm vergisst und zu spät kommt. Einmal glaubt Philipsen, eine Etappe gewonnen zu haben – er hat aber übersehen, dass 15 Sekunden vor ihm schon ein Ausreißer die Ziellinie überquert hatte.

Neben Fahrern kommen Teamchefs und Medienleute zu Wort, um den Sport zu erklären und Rennen nachzuerzählen. Die Etappen werden mit schnellen Umschnitten und dramatischer Musik inszeniert, Bilder von spektakulären Anstiegen (Tipp: Googeln Sie die Serpentinen von Montvernier!) motivieren zum Bingewatchen.

In Tour de France: Im Hauptfeld wird überraschend viel geweint, dabei zeigen sich drei Arten von Tränen: jene der Erleichterung nach einem Etappensieg; jene des Mitgefühls für einen Teamkollegen, der es nach einem schweren Unfall zurück auf die Weltbühne geschafft hat; und jene von Julien Jurdie.

Jurdie ist sportlicher Leiter des Teams AG2R Citroën. Er brüllt seine Fahrer an, hält grobe Ansprachen, wirkt verbissen. Auf seinem Rücken hat er sich ein Foto tätowieren lassen, das sein Team beim Sieg der Mannschaftswertung bei der Tour 2014 zeigt. Man fragt sich: Was ist das für ein ekliger Mann? Bis er von seiner eigenen Karriere erzählt. Davon, dass sein Vater nicht ein einziges Mal zu seinen Rennen gekommen ist, dass er sich verstoßen fühlte von seiner Familie und heute hofft, dass seine Eltern im Himmel stolz auf ihn sind. Man schließt Jurdie ins Herz.

Der Serie fehlt journalistische Distanz, das liegt in der Natur der Sache und ist dennoch zu kritisieren. Doping wird mit der Aussage abgetan, es heutzutage nicht mehr zu dulden. Dass mit Nairo Quintana ein Fahrer nachträglich disqualifiziert wurde, weil ihm eine verbotene Substanz nachgewiesen wurde, bleibt unerwähnt. Quintana wird gänzlich totgeschwiegen, obwohl er lange um einen Podestplatz kämpft.

Der US-Amerikaner Nelson Powless erzählt, in der Vorbereitung auf der Tour würde er "wie ein Mönch" leben. "Ständig muss man für sein Wettkampfgewicht Diäten einhalten und abnehmen", sagt er. Die Ernährung kommt sonst nicht vor, dabei wäre es ein spannendes und essenzielles Thema der Szene.

Die Lacets de Montvernier ("Schuhbänder von Montvernier").
AP/Thibault Camus

Plumpe Besprechungen

Teambesprechungen vor einer Etappe kommen plump daher. Es heißt etwa: "Tom, lass uns versuchen, die Etappe zu gewinnen. Okay?" Wie die Taktik konkret aussieht, welche Aufgaben jeder der acht Fahrer pro Team bekommt, wird ausgelassen. Schade, man hätte die Zuseher ruhig fordern können. Aus der Radszene kommt die Kritik, die Etappen seien zu überspitzt dargestellt, zudem würden neue Einblicke fehlen. Dazu muss man wissen: Radteams produzieren mit Filmcrews selbst Dokus für Youtube, betreiben professionelle, humorvolle Social-Media-Kanäle. Ja, es gab in der Vergangenheit andere Produktionen, die mehr ins Detail gehen, aber bestimmt auch zu speziell für ein größeres Publikum sind.

Tour de France: Im Hauptfeld liegt irgendwo zwischen Dokumentation und Kino aus Hollywood. Die Serie macht süchtig, weil die Erzählstränge gut gewählt sind und schnell Mitgefühl mit Fahrern und Mitarbeitern der Teams entsteht. Es weckt die Lust, Radrennen zu konsumieren, ja, vielleicht sogar zur nächsten Tour nach Frankreich zu fahren und das Spektakel vor Ort zu erleben. Die heurige Ausgabe der Tour de France beginnt am 1. Juli. Filmcrews von Netflix werden wieder dabei sein, sie sammeln Material für die zweite Staffel. (Lukas Zahrer, 13.6.2023)