Junge Frau mit medizinischer Maske
Medizinische Behandlungsmethoden, die das Geschlecht berücksichtigen, sind wirksamer. Lange Zeit wurde dieser Umstand in der Forschung nicht beachtet, doch seit den 1990er-Jahren holen die gendersensible Forschung und auch die Gendermedizin auf.
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Im Jahr 2019 hätte man es schon besser wissen können. Als die Covid-Krise über die Welt hereinbrach, begann der Motor der Medizinforschung zu brummen. Der Output war enorm. In einer systematischen Untersuchung, publiziert 2021 im Journal "BMJ Global Health", hielten Forschende unter dem Gesichtspunkt der Gendermedizin Rückschau auf Studien im ersten Jahr nach Pandemiebeginn. Sie schlüsselten auf, wie Geschlechts- und Genderaspekte in Covid-Studien integriert und wie darüber berichtet wurde. Als Referenz dienten die in früheren Studien ausgearbeiteten SAGER-Richtlinien (Sex and Gender Equity in Research). Das Fazit: Geschlechtsunterschiede wurden nicht adäquat analysiert, und Frauen waren in den meisten Studien unterrepräsentiert. Meist waren Ergebnisse gar nicht nach Geschlecht aufgeschlüsselt.

Vielleicht zeigt gerade die Aufarbeitung des Verhaltens in dieser ernsten Lage, wie wenig selbstverständlich eine geschlechtersensitive Forschungspraxis in der Medizin nach wie vor ist. Dabei weisen bisherige Erkenntnisse darauf hin, dass der Forschungsbedarf - und noch mehr der Umsetzungsbedarf in der Praxis - enorm ist. Nicht nur Krankheitsbilder und -häufigkeiten unterscheiden sich nach Geschlecht. Auch Medikamente haben oft unterschiedliche Wirkungen, weil sie unterschiedlich metabolisiert werden oder in anderer Weise mit körpereigenen Hormonen interagieren. Forschung, Ausbildung, Diagnostik, Behandlung, Pflege - jeder medizinische Bereich müsste den Genderaspekt stärker berücksichtigen.

Männer im Fokus

Medikamentenstudien wurden lange vornehmlich an Männern durchgeführt. Erst seit 2022 ist dank EU-Verordnung in klinischen Studien eine repräsentative Geschlechter- und Altersgruppenverteilung verpflichtend. Doch die Inbalance fängt bereits davor an: Auch in den Tiermodellen vorklinischer Studien werden männliche Tiere bevorzugt eingesetzt. Natürlich reagieren auch hier die Geschlechter unterschiedlich auf Wirkstoffe.

Ein Beispiel für eine lange unentdeckte Geschlechterdifferenz mit fatalen Folgen ist die Diagnose eines Herzinfarkts. Als Hauptsymptomatik gilt ein starker Schmerz in der Brust, der in andere Körperteile ausstrahlen kann. Bei Männern tritt dieses Beschwerdebild allerdings viel öfter auf als bei Frauen, die eher von Enge und Druck in der Brust sowie von unspezifischen Anzeichen wie Kurzatmigkeit, Übelkeit oder Beschwerden im Oberbauch berichten. "Männer sind früher betroffen, aber Frauen werden schlechter versorgt. Ihre Symptome gelten als atypisch, sie kommen oft zu spät in die Notaufnahme, weil sie selbst und ihre Umgebung nicht glauben, dass sie einen Herzinfarkt haben. Zudem werden sie seltener invasiv behandelt oder operiert und häufiger schlechter medikamentös behandelt", fasst die Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek, die als eine Mitbegründerin der Gendermedizin gilt, in einem Beitrag in der "Deutschen Apothekerzeitung" zusammen.

Chirurginnen händeringend gesucht

Das geht so weit, dass Frauen, die "traumatische Ereignisse wie Herzinfarkte" durchmachen, eine höhere Chance haben zu überleben, wenn sie von einer Frau behandelt werden, wie eine 2018 im Journal PNAS publizierte Studie zeigte. Immerhin: Die Überlebenswahrscheinlichkeit der Frauen steigt auch, wenn ein männlicher Arzt bereits viel Erfahrung mit Patientinnen hat. Ähnlich ist es in der Chirurgie. Eine Studie aus dem Jahr 2021 in "JAMA Surgery" zeigte, dass es bei Frauen, die von Männern operiert wurden, deutlich öfter zu Komplikationen kommt. Fachleute fordern deshalb gemischte Teams in der Chirurgie, die nach wie vor als Männerdomäne gilt.

Die Geschichte der Gendermedizin beginnt überraschend spät. Erst in den 1990ern setzte eine strukturierte medizinische Forschung ein, die Geschlechtsunterschiede bei Krankheit und Behandlung in Betracht zu ziehen - zuerst in den USA, später auch in Europa. Ausgehend von der Frauengesundheitsbewegung der vorhergehenden Jahrzehnte mit ihrem politisch-feministischen Blick auf Gesundheitsbelange ging man nun auch daran, systematischen naturwissenschaftlichen Forschungen zu den Folgen der Geschlechterdifferenz nachzugehen. Es wurde klar, dass es zu schwerwiegenden Versäumnissen gekommen war: Frauen litten häufiger an Nebenwirkungen von Medikamenten, weil sie in Studien unterrepräsentiert waren, und sie starben öfter an Herzinfarkten, weil ihre Symptomatik differierten. Doch auch in der Behandlung von Männern wurden Schieflagen offenbar. Es zeigte sich etwa, dass Depressionen bei ihnen vielfach unentdeckt blieben.

Gender als Einflussgröße

Gegenwärtige Positionen der Gendermedizin betrachten die Geschlechter weniger als Dualität, sondern als Kontinuum, in dem biologische, psychische und soziale Aspekte Platz finden. Sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Background haben Auswirkung auf Entstehung, Verlauf und Therapie von Krankheiten und werden in eine gesamtheitlichere Sicht miteinbezogen. Gender als psychosoziales Geschlecht wird in der Forschung zunehmend als Einflussgeber erkannt. Im EU-Projekt "Going-FWD", in dem die Med-Uni Wien gemeinsam mit Institutionen aus Schweden und Kanada vertreten ist, arbeitet man etwa an der Systematisierung und Messbarmachung dahin gehender Aspekte. Hier geht man etwa davon aus, dass genderbezogene Faktoren zwischen verschiedenen Ländern - und auch Krankheiten - stark variieren.

Letztendlich liegt auf der Hand, dass Gendermedizin zu einer Querschnittsmaterie werden muss, die jeden medizinischen Bereich durchdringt. Während die Forschung in diesem Bereich eine zunehmend breitere Basis gewinnt, bleibt eine systematische Umsetzung der Erkenntnisse im Vergleich dazu zurück - sowohl in der medizinischen Praxis als auch in der weiteren Medizinforschung. Oft hängt eine adäquate Berücksichtigung lediglich von der individuellen Erfahrung und Einsicht der behandelnden Personen ab. (Alois Pumhösel, 19.6.2023)