Überschießende Amtshandlungen finden laut dem Bericht vor allem bei Demonstrationen und im öffentlichen Raum statt.
Überschießende Amtshandlungen finden laut dem Bericht vor allem bei Demonstrationen und im öffentlichen Raum statt.
APA/TOBIAS STEINMAURER

In ihrem ersten Bericht dokumentiert die NGO Antirepressionsbüro 46 Fälle subjektiver Polizeigewalterfahrungen. Mit 42 Meldungen stammt der Großteil der Meldungen für den Zeitraum März 2021 bis 2023 aus Wien.

Zeuginnen und Zeugen, die 45,7 Prozent der Fälle meldeten, hätten in ihren Schilderungen immer wieder Rassismus, Herkunft und das Aussehen als vermutete Gründe für überschießende Amtshandlungen identifiziert. Betroffene selbst würden hingegen meist einfaches Fehlverhalten durch die Polizei nennen. Meist sei aber das Motiv, warum es überhaupt zu einer Amtshandlung kam, den Beobachterinnen und Beobachtern sowie Betroffenen unklar.

Schusswaffengebrauch

80 Prozent der Fälle sollen im öffentlichen Raum oder bei Demos stattgefunden haben, wobei es in 27 Prozent der Vorwürfe um physische Gewalt und Festnahmen gehe, in 23 Prozent um verbale Angriffe. Dabei reichen die Meldungen von Drohungen oder Beschimpfungen bis hin zu schweren körperlichen Angriffen wie Schusswaffengebrauch oder Knien auf der Brust.

Etwa beschreibt die Stelle eine Meldung, bei der ein Mitarbeiter in einem Gasthaus eine psychotische Episode durchlitt. Er soll von den Beamten am Bein angeschossen worden sein – laut Zeugen hätten diese unverhältnismäßig gehandelt, da keine Gefahr von dem Mann ausging. In einem weiteren Augenzeugenbericht soll eine geistig verwirrte Person von Beamten niedergerungen worden sein. Ein Polizist soll so lange auf dem Rücken des Mannes gekniet haben, bis dieser den Darm entleerte und still wurde. Die Rettung soll daraufhin versucht haben, ihn wiederzubeleben.

Unabhängige Meldestelle gefordert

"Unser Bericht zeigt, dass es sich bei Polizeigewalt in Österreich nicht um Einzelfälle handelt, sondern System hat", sagt Vedrana Čović, Obfrau des Antirepressionsbüros. Sie fordert "eine echte unabhängige Meldestelle für Polizeigewalt. Das könnte auch künftige Fälle nachhaltig verhindern." Zuletzt haben zahlreiche Institutionen, darunter Amnesty International, die geplante Beschwerdestelle für Polizeigewalt kritisiert – diese soll dem Innenministerium unterstehen, das wiederum auch für die Polizei verantwortlich ist. Demnach würde die Polizei gegen sich selbst ermitteln.

Da die meisten Fälle an Orten wie der Millennium City, dem Reumannplatz, dem Praterstern und dem Yppenplatz dokumentiert wurden, fordert der Verein zudem ein angepasstes Verhalten der Polizei an die vorherrschenden Sozialstrukturen. Oft gebe es willkürliche Kontrollen von Obdachlosen und jungen Menschen mit Migrationsgeschichte. Hinzu käme, dass überhaupt das Aussehen von Betroffenen immer wieder als Grund genannt wurde, warum eine Amtshandlung stattgefunden haben soll – daher fordert die NGO eine öffentliche Debatte über Racial Profiling. Auch im Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen bräuchte es professionelle Unterstützung durch Psychologinnen und Sozialarbeiter. Beunruhigend sei zudem, dass die Dokumentation durch Dritte – etwa Zeugen, aber auch Journalistinnen – verstärkt verhindert wird, indem etwa mit Repressionen gedroht werde. 

Die Wiener Landtagsabgeordnete Viktoria Spielmann (Grüne), die im Beirat der NGO sitzt, zeigt sich besorgt über besonders viele Meldungen von mutmaßlicher Polizeigewalt im Rahmen linker Demonstrationen. Gerade in letzter Zeit würde die Polizei "beispielsweise immer wieder Pfefferspray gegen linke Demonstrant:innen – und unter anderem auch Journalist:innen – einsetzen". Sie fordert neben einer Meldestelle für Polizeigewalt eine Kennzeichnungspflicht von Polizistinnen und Polizisten sowie einen Kulturwandel innerhalb der Polizei hin zur Deeskalation.

Bund streicht Geld für Beratungen

Nur in den wenigsten Fällen führen staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen mutmaßlicher Polizeigewalt zu einer Verurteilung – das geht aus einer Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage der Neos durch Justizministerin Alma Zadić (Grüne) hervor. Seit 2021 bis Ende April des heurigen Jahres gab es 55 Ermittlungsverfahren wegen Amtsmissbrauchs, in zwei Fällen führte eine Anklage schließlich zu einer rechtskräftigen Verurteilung.

Auch die Antirassismusmeldestelle Zara kritisierte zuvor, dass es fast nie zu Anklagen kommt. Sie dokumentiert unter anderem Vorwürfe rassistischer Polizeigewalt. Im Vorjahr zählte sie 59 Fälle – darunter etwa einen Mann, der als einziger Schwarzer bei einer Wohnungsparty aufgefordert worden sei, sich auszuweisen. Oft komme bei dem Versuch, sich gegen solche Übergriffe zu wehren, wenig heraus.

Zara berät auch Betroffene – der Stelle wurden allerdings die Gelder massiv gekürzt. So stellte der Bund unter der türkis-blauen Regierung Förderungen für Beratungen in Rassismusfällen bei Zara ein. Anders als etwa beim Thema Hass im Netz finanziert die Stelle derartige Unterstützung ausschließlich über Gelder der Stadt Wien. Deswegen fehle es an Personal, von rassistischer Diskriminierung Betroffene müssten lange Wartezeiten in Kauf nehmen, monierte ein Sprecher.

Abhängigkeiten

Eine Studie des Austrian Center for Law Enforcement Sciences (Ales) zum Zeitraum 2012 bis 2015 ergab bei insgesamt 1.518 Misshandlungsvorwürfen, dass es nicht nur kaum zu Verurteilungen kommt, sondern auch, dass selten überhaupt Gerichtsprozesse eingeleitet werden. Oft werden die Vorwürfe fallengelassen.

Der Kriminologe Tobias Singelnstein identifizierte im Gespräch mit dem "Spiegel" strukturelle Probleme: So würden Polizisten gegen die Polizei ermitteln. Auch bestehe zwischen der Staatsanwaltschaft und der Polizei eine institutionelle Nähe, da diese eng zusammenarbeiten würden. Das führe zu Abhängigkeiten. Die geplante Beschwerdestelle dürfte diese aufgrund ihrer Verortung im Innenministerium nicht ausräumen. (Muzayen Al-Youssef, 13.6.2023)