François-Xavier Roth dirigierte sein Les Siècles Orchester.
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Wien – Die Gegenwart gleitet unaufhaltsam in Richtung Zukunft voran, wodurch die Vergangenheit immer mehr an zeitlichem Raum gewinnt. Kein Heute ohne (ein immer größer werdendes) Gestern. Im florierenden Metier des historisch informierten Musizierens ist man bei der Rekonstruktion der klingenden Vergangenheit mittlerweile im 20. Jahrhundert angekommen.

Zum Finale ihres Debuts im Musikverein – es stand im Zeichen der legendären Ballets Russes von Sergej Diaghilew – gab die Formation Les Siècles am Montagabend unter der Leitung von ihrem Gründer François-Xavier Roth Strawinskys brutistischen Schocker Le Sacre du Printemps im Retrosound von 1913.

Die Pariser spielen auf französischen Instrumenten dieser Zeit, ihr "Originalklang" ist matter und etwas gedrungener als der polierte, der potente, transparentere Sound der modernen Symphonieorchester: wie ein alter Bechstein im Vergleich zu einem neuen Steinway D-Flügel. Aber das ist nicht ohne Charme!

Olaf Scholz der Dirigentenzunft

So schien Webers Aufforderung zum Tanz (in der Berlioz-Orchestrierung) an Maggie Smith als Lady Grantham in Downton Abbey adressiert gewesen zu sein. Mit Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune hatte Roth, der Olaf Scholz der Dirigentenzunft, zuvor das Konzert eröffnet: mit fließenden Tempi, poetisch und agil. Für Diaghilew hat auch Maurice Ravel komponiert, und zwar sein atemberaubend schönes Daphnis et Chloé.

Die zweite Suite präsentierten die Franzosen mit einer trockenen Brillanz, zu der der Singverein wonnige Ahs beisteuerte. Der vergangenheitsselige Maestro Roth wird 2025 übrigens Teodor Currentzis als Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters nachfolgen, welcher ja gerade im Konzerthaus mit seinem Projektorchester Utopia zu Gast war. Zukunft und Gegenwart der Stuttgarter haben an diesem Wochenende also zeitgleich in Wien musiziert. Was aber nun aber auch schon wieder Vergangenheit ist. (sten, 14.6.2023)