Seit nunmehr eineinhalb Jahren rollt die stärkste Inflationswelle seit einem halben Jahrhundert durch die Eurozone. Der Bankenexperte und frühere Notenbanker Andreas Drombret räumt ein, dass die Europäische Zentralbank (EZB) den Ernst der Lage zu spät erkannt habe. Danach habe die Notenbank, die vermutlich am Donnerstagnachmittag den Leitzins um 25 Basispunkte auf vier Prozent erhöhen wird, aber alles richtig gemacht.

Der EZB-Tower in Frankfurt
Das Ende der Zinserhöhungen der EZB, zu sehen ihr Tower in Frankfurt, sei bereits recht nahe, meint Andreas Dombret. Er war selbst früher Vorstand der Deutschen Bundesbank.
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STANDARD: Wie schätzen Sie die Zinspolitik der EZB rückblickend ein? Die Teuerung wurde lange unterschätzt, daher wurde sehr spät darauf reagiert.

Dombret: Die Modelle aller Notenbanken haben in vielen Punkten falschgelegen, die Prognosen waren damit leider ebenfalls falsch. Selten wurde die wirtschaftliche Entwicklung weltweit derart fehlerhaft eingeschätzt wie in und nach der Pandemie.

STANDARD: Hätte man früher reagieren müssen?

Dombret: Im Nachhinein ist man immer schlauer, aber ja, man hätte tatsächlich früher reagieren sollen. Andere Zentralbanken wie die der USA und die Bank of England haben die Zinswende früher gestartet. Es empfiehlt sich dabei, immer sowohl auf die Gesamt- und auf die Kerninflation zu schauen. Zur Erinnerung: Wir hatten bereits vor Beginn des Ukrainekrieges in der Eurozone eine steigende Inflation.

STANDARD: Nämlich schon bei mehr als drei Prozent.

Dombret: Ganz richtig. Es ist allen Volkswirten schwergefallen, die Auswirkungen der Pandemie, die gestiegenen Energiepreise und die Lieferkettenprobleme korrekt abschätzen. Wenn Sie eine niedrige Kerninflation haben, aber durch den Krieg hochgetriebene Energie- und Lebensmittelpreise, kann die Zentralbank die Zinsen massiv erhöhen, erzielt damit aber so gut wie keine Wirkung. Gegen Kriegsfolgen sind Zinsen kein probates Mittel.

Kerninflation als Problem

STANDARD: Man kann die importierte Inflation, etwa bei Erdölprodukten, über die Wechselkurse dämpfen.

Dombret: Stimmt, aber es geht nicht so schnell, wie Sie vielleicht meinen. Inzwischen haben die Amerikaner es geschafft, dass die Inflation dort sinkt, während bei uns die Inflation zwar ebenfalls rückläufig ist, die Kerninflation aber stark ansteigt. Das ist zurzeit unser Problem in der Eurozone. Wir haben also, befürchte ich, die höchsten Zinssätze in Europa wohl noch nicht erreicht.

STANDARD: Wird sich die EZB dem Zinsgipfel in kleinen Schritten nähern?

Dombret: Das ist meine Vermutung. Wir sind nicht weit vom Zinsgipfel entfernt, aber eben auch noch nicht da. Es wird nach meiner Einschätzung eher noch drei als zwei Zinsschritte von jeweils einem Viertelprozent brauchen, und dann müssen die Zinsen eine Weile auf diesem Niveau verharren. Die Frage ist, wie die weitere Konjunkturentwicklung aussehen wird – geraten wir in eine Rezession oder nicht.

STANDARD: Was erwarten Sie?

Dombret: Im Moment sieht es danach aus, dass Deutschland eine Art Stagflation bekommt und sich erst nächstes Jahr wieder dem Trendwachstum annähert. In Österreich haben Sie eine leicht andere Situation: Hier gibt es zwar eine höhere Inflation als in Deutschland, dafür weist Österreich aber auch höheres Wachstum auf.

Andreas Dombret
Andreas Dombret (63) ist heute als Unternehmensberater tätig. Zuvor war der Bankenexperte von 2010 bis 2018 Vorstand der Deutschen Bundesbank, von 2005 bis 2009 bei der Bank of America tätig. Dombret ist verheiratet und Vater einer erwachsenen Tochter. Er besitzt die deutsche und die US-Staatsbürgerschaft.
Deutsche Bundesbank

STANDARD: Werden Null- oder sogar Negativzinsen jemals wiederkommen – und mit ihnen negative Effekte wie steigende Ungleichheit?

Dombret: Notenbanken müssen, abhängig von der jeweiligen Situation, alle ihre Instrumente ausnutzen. Bei Niedrigzinsen stellt sich die Frage, wann die Notenbank aus der Nutzung dieser Instrumente wieder aussteigen. Es ist halt nun einmal viel populärer, Zinsen zu senken, als sie zu erhöhen. Die wahre Kunst liegt im Timing, und das ist diesmal nicht komplett geglückt. Seit Juli letzten Jahres, als die Negativzinsen hierzulande abgeschafft wurden, hat die EZB nach meiner Einschätzung aber alles richtig gemacht. Man kann zu Recht diskutieren, ob der Startpunkt der Zinswende zu spät war, aber das hilft uns heute nicht mehr weiter. Alles in allem möchte ich dem Eurosystem und dem EZB-Rat Lob für die Geldpolitik seit Mitte des letzten Jahres aussprechen. Die EZB muss aber am Ball bleiben und darf nicht zu früh nachlassen. Noch erhebt die Inflation ihr hässliches Haupt und ist nicht besiegt.

STANDARD: Die starken Zinssteigerungen haben etliche US-Banken und die Credit Suisse in Europa in Schieflage gebracht. Fürchten Sie eine Bankenkrise in Europa?

Dombret: Nein.

STANDARD: Und in den USA?

Dombret: Die Regionalbanken sind dort immer noch einer gewissen Vertrauenskrise ausgesetzt. Aber die USA haben ein lösbares Problem, weil es dort viele große, potente Banken gibt, die Banken in schwieriger Position auffangen können.

Keine gute Entwicklung

STANDARD: Das führt zu noch größeren Einheiten bei den Banken. Nach der Finanzkrise 2008 wollte man doch weg von "too big to fail"? Momentan geht die Entwicklung sogar mehr in Richtung "too big to bail" (zu groß, um gerettet zu werden).

Dombret: Es stimmt: "Too big to fail" sollte abgeschafft und nie wieder sollte öffentliches Geld für Bankenrettung eingesetzt werden. Ich bin mir im Nachhinein nicht sicher, ob das nicht eine Illusion war. Als Erstes wurde sowohl bei der Silicon Valley Bank wie auch bei der Credit Suisse wieder öffentliches Geld eingesetzt. Schwächen in den Bankenmärkten führen damit zu immer größeren Häusern, die immer marktmächtiger werden und die implizite Sicherheit des Staates mitführen. Das ist ganz sicher alles andere als eine gute Entwicklung. Unsere Volkswirtschaften brauchen Wettbewerb und die Möglichkeit, dass Banken aus dem Markt ausscheiden können, ohne gleich eine Systemkrise auszulösen. Deshalb sind die aktuellen Entwicklungen durchaus Anlass zur Sorge.

STANDARD: Wo kann man den Hebel ansetzen?

Dombret: In Europa wurden in den letzten Jahren bei der Bankenaufsicht und Bankenabwicklung deutliche Fortschritte gemacht. Das ist sehr gut so. Wenn die Banken aber überreguliert werden, dann zeigt die Erfahrung, dass Risiken aus dem Bankensektor in angrenzende, nicht regulierte Bereiche ausweichen, und zwar in die sogenannten Schattenbanken. Und wenn Risiken am Ende des Tages dort schlagend werden, fallen sie in vielen Fällen doch wieder bei den Banken an. Die Aufsicht kennt das Schattenbankensystem noch immer viel zu wenig, und das bereitet mir Sorgen.

STANDARD: Sie meinen Finanzakteure, die bankenähnliche Funktionen erfüllen, aber nicht der Bankenaufsicht unterliegen?

Dombret: Ja, genau. Wenn bei den Banken die Balance bei der Regulierung überschritten wird, heißt das nicht, dass wir insgesamt die Risiken minimieren – sie sind dann nur woanders. (Alexander Hahn, 15.6.2023)