Sepp Hochreiter, Forscher künstliche Intelligenz
KI-Pionier Sepp Hochreiter hält mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg.
JKU Linz

Der Tag war wohl nicht zufällig gewählt. Nur wenige Stunden nachdem sich das EU-Parlament auf eine gemeinsame Position zu künstlicher Intelligenz (KI) geeinigt hatte, traten die wichtigsten österreichischen Forschenden am Mittwoch geschlossen vor die Presse. Mit dem sogenannten Artificial Intelligence Act (AI Act) hielt man sich dann gar nicht lange auf. Vielmehr wurde der seltene gemeinsame Auftritt für einen Hilfeschrei und eine Abrechnung mit der österreichischen Politik genutzt.

Der renommierte KI-Forscher Sepp Hochreiter, der mit Pionierarbeiten in den 1990er-Jahren moderner Spracherkennung und Übersetzungssoftware den Weg bereitete, hielt mit seiner Meinung nicht zurück. "Wir sind international super anerkannt, stehen dort in der Champions League, bei der Finanzierung sind wir aber in der Kreisliga", kritisierte der Leiter des Institut für Machine Learning an der Johannes-Kepler-Universität Linz. Das sei, als ob man Manchester United das Geld streichen würde: "Wie blöd kann man eigentlich sein?"

Regierungskrisen statt KI-Strategie

Der einhellige Tenor der KI-Szene, darunter Forschende der JKU Linz, der TU Wien, der TU Graz, der WU Wien, des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) und der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt: Trotz jahrelanger Appelle an die Politik fehlen Geld und damit Rechenleistung, Professuren, Studienprogramme und nicht zuletzt die notwendige Vernetzung, die der Forschungsstandort Österreich bei dem Thema dringend brauche.

KI in der Medizin, Symbolbild mit künstlichen Organen
Künstliche Intelligenz ist viel mehr als nur ChatGPT – gerade in der Medizin werden viele Fortschritte erwartet.
Midjourney

Bernhard Moser, Präsident der KI-Plattform Austrian Society for Artificial Intelligence (ASAI), wies darauf hin, dass die öffentliche und mediale Wahrnehmung, wonach künstliche Intelligenz ChatGPT und Bild-KI-Software entspreche, zu kurz greife. Vielmehr erlebe man nun eine stille Revolution im Hintergrund, die von den Naturwissenschaften wie der Physik bis hin zu Ingenieursdisziplinen, Materialforschung, Kreislaufwirtschaft und Recycling und der personalisierten Medizin völlig neue Möglichkeiten eröffne. "Andere Länder wie Kanada oder die Niederlande haben das längst erkannt und schon 2019 KI-Strategien diskutiert und implementiert, während wir mit Regierungsproblemen beschäftigt waren", erklärt Moser.

Auch der neue Zusammenschluss der Szene im Jahr 2019 über das ASAI-Netzwerk habe nicht die politische Durchschlagkraft erzeugt, die aber notwendig wäre, um nicht den internationalen Anschluss zu verlieren. Denn mit den widrigen Voraussetzungen nütze die ganze vorhandene wissenschaftliche Expertise und Exzellenz nichts. Fachkräfte und frisch ausgebildete Talente seien so nicht zu halten. Erst im April musste Hochreiter am Wiener Institute of Advanced Research in Artificial Intelligence eigenen Angaben zufolge 20 Fachleute kündigen.

"Mozart und Lipizzaner sind zu wenig"

"Mozart, Lipizzaner und Wörthersee sind für den Standort Österreich zu wenig als Zukunftsperspektive", monierte auch Gerhard Friedrich von der Uni Klagenfurt. Um zu verstehen, dass künstliche Intelligenz die Zukunft sei, brauche man keinen Nobelpreis. Auch dafür nicht, was passiere, wenn man den Anschluss verpasse. Denn entgegen der verbreiteten Meinung, dass KI Arbeitsplätze zu vernichten drohe, könne diese auch Jobs schaffen beziehungsweise dafür sorgen, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben und nicht in andere Länder abwandern. Das könne er aus seiner langjährigen Arbeit bei Siemens aus erster Hand bestätigen.

Lipizaner Hofreitschule
Lipizzaner und Mozartkugeln sind laut den Forschenden als Image nicht ausreichend für den Standort Österreich.
Regine Hendrich

Selbst auf regionaler Ebene passiere in anderen Ländern wie Deutschland deutlich mehr als in Österreich, kritisierten die KI-Forschenden. Hochreiter verwies diesbezüglich auf eine Ankündigung des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, ein KI-Netzwerk mit hunderten Professuren zu schaffen. In Österreich gebe es aktuell etwa zwei bis drei plus zwei weitere Handvoll, die sich allerdings im Bereich der Grundlagenforschung nicht exklusiv dem Thema widmen würden.

Nehme man die ohnehin noch zu geringe jetzige Investitionssumme Deutschlands von fünf Milliarden Euro für KI-Forschung als Maßstab, wären das im Verhältnis auf Österreich gemünzt zumindest 500 Millionen Euro. Und selbst das sei noch zu wenig, da Deutschland bereits die zweite Investitionsrunde hinter sich habe. In Wahrheit sei wohl eher eine Milliarde Euro notwendig, um die Versäumnisse der vergangenen Jahre aufzuholen und den Anschluss an andere Länder nicht zu verlieren, fasste Hochreiter zusammen.

Förderprogramme nicht ausreichend

Der aus der Politik zu hörende Einwand, man habe etwa über Förderprogramme in den vergangenen Jahren bereits 500 Millionen Euro investiert, lässt Thomas Eiter von der TU Wien so nicht gelten: "Das ist eine gewisse Selbsttäuschung. Dabei handelte es sich nicht um Grundlagenforschung, sondern in vielen Fällen um Einzelprojekte, die irgendwas mit Computer und Daten zu tun hatten und dann mit dem Label künstliche Intelligenz versehen wurden." Tatsächlich ist es so, dass existierende Förderprogramme wie die der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft FFG und der Förderbank AWS eher auf anwendungsnahe KI-Entwicklungen abzielen.

Und auch eine andere Zahl verdeutlicht die ungleiche Ausgangsposition von Österreich. Ein Praktikant bekomme bei Google für sein KI-Experiment ungefragt die Rechenleistung von 1.000 Grafikkarten zur Verfügung gestellt, für größere Forschungen seien bis zu 5.000 Einheiten möglich. Bei der verhältnismäßig gut ausgestatteten JKU Linz stünden etwa drei bis vier Grafikkarten für derartige Experimente zur Verfügung, die gesamte Rechenleistung der Uni betrage gerade einmal 150 Grafikkarten, sagten Bernhard Nessler und Günter Klambauer von der JKU Linz.

Computergehirn für künstliche Intelligenz
Grundlagenforschung für künstliche Intelligenz braucht viel mehr Rechenleistung.
Midjourney

Während Hochreiter eigenen Angaben zufolge weiterhin an einer österreichischen ChatGPT-Alternative arbeitet und überzeugt ist, OpenAI, das Unternehmen hinter dem KI-Chatbot, mit der bereits existierenden besseren Technologie "vom Markt hauen zu können", sehen andere einmal mehr Chancen für Österreich in Nischenmärkten. Gerade in der hochspezialisierten Industrie, in der das Land ohnehin stark vertreten sei, könne künstliche Intelligenz für enorme Effizienzsteigerungen und mehr Sicherheit sorgen und die Digitalisierung vorantreiben, zeigt sich Martina Seidl von der JKU Linz überzeugt.

Deutschland und Saudi-Arabien klopfen an

Und die Politik? Vom für Digitalisierung zuständigen Staatssekretär Florian Tursky (ÖVP) kamen zuletzt positive Signale, dass die schon früher kommunizierte Kritik an einer fehlenden KI-Strategie und der fehlenden Finanzierung für Grundlagenforschung angekommen ist. Das bestätigte auch Hochreiter, der zudem von Gesprächen mit dem Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka (ÖVP) berichtete. Gleichzeitig sei er aber vertröstet worden auf Budgetverhandlungen, die wohl erst geführt werden müssen.

Ob der vage Zeithorizont reicht, um Hochreiters Vision von einer österreichischen ChatGPT-Version noch realisieren zu können, bleibt fraglich. Denn für die Technologie würden sich auch Investoren aus Saudi-Arabien und Deutschland interessieren, mehrere Hundert Millionen Euro hätten diese im Gepäck: "Mir ist es völlig egal, woher das Geld kommt, ich fände es eben schade und blöd für österreichische Firmen, wenn die Patentrechte dann woanders hinwandern und man die vorhandene Goldgrube etwa ins Nachbarland weggibt." (Martin Stepanek, 15.6.2023)