Vor fast zehn Jahren stand Europa unter Schock: Am 3. Oktober 2013 starben vor der italienischen Insel Lampedusa mindestens 366 Flüchtlinge und Migranten bei einem Bootsunglück. Acht Tage später wiederholte sich die Tragödie, diesmal verloren mehr als 200 Menschen ihr Leben. Die Regierenden in Europa zeigten sich unisono betroffen. Viele versprachen, alles zu unternehmen, damit sich solche Dramen nicht mehr wiederholen.

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Angesichts des Bootsunglücks gab es am Donnerstag in Athen Proteste gegen die EU-Migrationspolitik.
APA/AFP/LOUISA GOULIAMAKI

Das bringt uns in die Gegenwart, wo vor der griechischen Küste bei einem Bootsunglück wahrscheinlich hunderte Menschen ertrunken sind. Die griechische Regierung zeigte sich betroffen und verhängte eine dreitägige Staatstrauer. Aber ansonsten? Salopp formuliert, jucken solche Unglücke in Europa kaum jemanden mehr. Sie haben sich seit den Ereignissen in Lampedusa zigmal wiederholt, doch anstatt sich tatsächlich um ein Ende des Massensterbens im Mittelmeer zu bemühen, schoss und schießt man sich rhetorisch bevorzugt auf zivile Rettungsschiffe ein. 

VIDEO: Tausende Griechen fordern nach Schiffsunglück mehr Schutz für Geflüchtete
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Der ominöse Pull-Faktor

Auch die nach den Unglücken im Jahr 2013 eingeführte italienische Seenotrettungsoperation "Mare Nostrum" wurde nur ein Jahr später wieder beendet, Stichwort Pull-Faktor. Sie wurde abgelöst durch die Grenzsicherungsmission "Triton" der EU-Grenzschutzbehörde. 

Der Pull-Faktor hat in der vergangenen Dekade die Debatte über die Geschehnisse dominiert – und spielt immer noch eine wichtige Rolle. Vielen Politikerinnen und Politikern zufolge sind Rettungsschiffe, egal ob staatliche oder zivile, ein Pull-Faktor, ein Anreiz für Menschen, die gefährliche Überfahrt nach Europa zu wagen. Die These: Wenn die Flüchtlinge und Migranten wissen, dass sie auf hoher See gerettet und dann sicher nach Europa gebracht werden, gehen sie viel eher das Risiko ein, sich aufs Mittelmeer zu begeben.

Nur: Für diesen Pull-Faktor gibt es keinen eindeutigen Beleg. Diverse Studien haben ihn auf alle Fälle nicht gefunden, allerdings auch keinen für das Gegenteil. Stattdessen, so das Fazit, hätten politische und wirtschaftliche Probleme in den Heimatländern beziehungsweise bestimmte Entwicklungen zu gestiegenen Überfahrten geführt. 

Kampf gegen Rettungsschiffe

Das ändert nichts daran, dass man weiterhin mit nahezu allen Mitteln versucht, zivilen Rettungsschiffen das Helfen zu erschweren, und damit eigentlich das Massensterben indirekt in Kauf nimmt: als Abschreckung für weitere Migranten und Flüchtlinge. Passend dazu führen einige EU-Länder, unter anderem Griechenland, illegale Pushbacks durch, was wohl auch der Grund dafür war, dass das nun verunglückte Boot nicht nach Griechenland, sondern ins weiter entfernte Italien übersetzen wollte. 

Archiv-Foto: Das Boot, das vor der griechischen Küste gesunken ist
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Gleichzeitig, wobei das im Grundsatz durchaus zu begrüßen ist, hat man versucht, mit den umliegenden Staaten an den maritimen Außengrenzen zu kooperieren. Man musste unter anderem aber mit Recep Tayyip Erdoğan paktieren, der – wenig überraschend – kein stabiler Partner ist und der EU gerne mal droht, die Migranten ungebremst in die EU zu lassen.

Finanzspritze für Tunesien

Nun versucht man es auch mit Tunesiens immer autoritärer regierendem Präsidenten Kais Saied, von dessen Land aus zuletzt verstärkt Menschen die Überfahrt nach Europa riskierten. Geködert werden soll er mit einer 900-Millionen-Euro-Finanzspritze der EU. Man kann davon ausgehen, dass es hier zu einer Einigung kommt. Welche Mittel Saied dann anwenden wird, um die Migrationsbewegungen zu stoppen, will man vermutlich gar nicht wissen – die Regierenden in Europa mit Sicherheit nicht. 

Doch das größte Problem diesbezüglich bleibt. Libyen, wo auch das vor Griechenland verunglückte Flüchtlingsboot abgelegt hatte, ist weiterhin ein Land im politischen Chaos, in dem bewaffnete Milizen gerne Schlepper und Küstenwache in einem sind. Sie werden mit europäischen Geldern subventioniert, um die Flüchtlinge und Migranten abzufangen. Diese stecken sie in Lager, in denen sie nachweislich Folter und sexueller Gewalt ausgesetzt sind. 

Hinzu kommt aber, dass selbst diese schmutzigen Methoden nichts daran ändern, dass immer noch genug Menschen von Libyen ablegen. Manchmal fordern die Milizen mehr Mittel aus Europa, ein anderes Mal gibt es auch Machtkämpfe zwischen Milizen, sodass diese sich nicht ums Abfangen kümmern können. So oder so sind die Milizen keine stabilen Partner.

Fluchtursachen bekämpfen

Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma? Solange man das Einfallstor Libyen nicht unter Kontrolle bekommt, und danach schaut es nicht aus, ist die Bekämpfung von Fluchtursachen und die Rücknahme jener, die in Europa einen negativen Asylbescheid erhalten haben, umso wichtiger. Ersteres wird viel Zeit in Anspruch nehmen, vor allem mit den immer stärker werdenden Auswirkungen des Klimawandels im Globalen Süden. 

Und was Rückführungen betrifft, so hat es die EU bislang erfolglos mit finanziellen Anreizen versucht. Warum? Die in Europa lebenden Migranten überweisen jährlich zig Milliarden Euro an ihre Verwandten in subsaharischen Ländern – ein Vielfaches der dorthin geflossenen Entwicklungshilfe. Es gibt also ein großes ökonomisches Interesse, dass es viele von ihnen nach Europa schaffen. Als die EU 2016 ein Rückführungsabkommen mit Mali abschloss, kam es zu Protesten gegen die Regierung.

Aus diesem Grund fordern Fachleute neben Finanzspritzen auch legale Einreisemöglichkeiten, um die Herkunftsländer zum Einlenken zu bewegen. Das ist beileibe keine neue Idee, schon am 16. Dezember 2005 formulierten die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder diesen Maßnahmenmix als Gesamtansatz zur Migrationsfrage. Es könne "durch Maximierung der Vorteile der legalen Migration für alle Partner" besser gesteuert werden.

Umstrittener Verteilungsmechanismus

Das führt aber zum wohl heißesten Eisen in der Asylpolitik der EU. Denn würde man tatsächlich legale Einreisemöglichkeiten schaffen, welche Länder genau sollten diese Menschen dann aufnehmen? Ein EU-weiter Verteilungsmechanismus, basierend auf fairen Quoten, wäre eigentlich die Lösung, ist aber schon mehrmals gescheitert, und auch bei den aktuellen Plänen zu einer EU-Asylreform formiert sich bereits Widerstand.

Die Pläne sehen Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen, raschere Rückführungen und eben einen solidarischen Verteilmechanismus vor. Ob all das kommt, wird sich in den nächsten Monaten entscheiden. Dass diese Pläne dann auch wirken und dazu führen, dass die Ankunftszahlen in Europa zurückgehen und sich so auch das Sterben im Mittelmeer verringert, ist aber zu bezweifeln. 

Denn es ist aktuell unvorstellbar, dass ein Verteilmechanismus tatsächlich funktioniert. Noch unvorstellbarer im aktuellen politischen Klima Europas sind legale Einreisemöglichkeiten, genauso wie verstärkte Rettungsmissionen im Mittelmeer. Und so wird das nächste Bootsunglück wohl nicht lange auf sich warten lassen. (Kim Son Hoang, 16.6.2023)