Hélène Alice Bailleul
Die französische Autorin Hélène Alice Bailleul lebt derzeit in Tirol.
privat

Ich träume von einer flachen Erde. Und da der Himmel endlos ist, träume ich auch von einer endlosen Erde. Denn das Problem, das eigentliche Problem der Menschheit, ist weder Macht noch Geld. Es ist ganz einfach der Platz. Schon in der Kindheit geht es los: "Geh aus dem Weg" gehört mit zum Ersten, was man in der Kindheit hört. Wer erinnert sich nicht daran, wie man während der Pause in der Schule herumgeschubst, mit dem Ellbogen gestoßen wurde, ein Bein gestellt bekommen hat? Dann klingelte die Glocke, jeder musste seine Reihe, seinen Platz in der Reihe finden und schubste die anderen, um schneller dorthin zu gelangen. Wie viele kamen nicht mit blauen Flecken aus der Schule, vom "Klassenstärksten" geschlagen?

Muskelspiele

"Verpiss dich" ist die Parole der Teenager. Sie ist aggressiver. Es steht mehr auf dem Spiel. Es geht um die Ehre, das "Verpiss dich" ist Teil der Muskelspiele, oft hängt es auch mit Liebesgeschichten zusammen. "Verpiss dich, sonst mach’ ich dich fertig", versetzt ein kräftiger Kerl seinem Gegner, damit er die Schöne unbehelligt umarmen kann. Später wird es komplizierter. Man "wirft raus", man "schafft Platz", aber man "sucht auch seinen Platz" und "nimmt jemandes Platz" ein. Denn die Anzahl der Plätze ist nicht endlos. Denn ein Platz ist nicht endlos.

Mit der Menschheit ist es genauso. Sie holzt die Wälder ab. Rottet die Wildtiere aus. Um eine Stadt zu bauen. Um besser zu leben. Um Platz zu haben. Dann hat man es bequem. Schließlich erscheint ein Blender. Er hat alles: Geld, Macht. Alles. Nur nicht "allen Platz". Aber er will ihn, allen Platz. Weil der Platz auf der Erde endlich ist. Er schickt eine Armee von Deppen, intelligente Bomben, zerstört, sabotiert, plündert, macht alles zunichte. Ist nicht so schlimm, er wird es wieder aufbauen. Was zählt, ist die Ausweitung seines Imperiums, Platz zu haben, den Platz zu haben.

Platz haben, seine Flagge aufstellen, den Sieg ausrufen, aber was ist das schon für ein Sieg, der aus einem Blutbad hervorgeht? Was ist das für ein Sieg, der auf geschundenen Leibern, zu Staub zerfallenen Städten, zerstückelten Tieren und für immer radioaktiv verseuchten Landstrichen oder Minenfeldern beruht? Krieg ist stets nur eine Niederlage.

Kein Platz für Schmerz

Khaled zog nur Fußballtrikots mit der Rückennummer seines Idols an. Er liebte Fußball, war zehn Jahre alt und hatte lachende Augen. Er hatte gelernt, mit dem Krieg zu leben. Als gäbe es keinen Krieg in seinem Leben. Oft spielte er Fußball auf den Feldern von Dar‘a hinter seinem Haus. Er wurde von einer Kugel niedergemäht. Ein Scharfschütze? Ein Irrer? Ein absurder Kampf? Eine verirrte Kugel? Ihre Flugbahn endete mitten in Khaleds kleinem Herz. Das war ihr Platz. Seither hat sein Vater jeden Tag gerötete Augen. Seither nennt sein Vater ihn nicht mehr "mein Kind", sondern "mein Kleiner".

Der "Kleine" hat es nie ins Gastland des Vaters geschafft. Der Schmerz des Vaters. Von seiner Umgebung geleugnet. Zunichtegemacht. Denn der Vater ist nur ein Flüchtling: Das heißt, dass er im Stillen leidet, seinem Schmerz wird kein Platz gegeben. Flüchtling: "Du kannst froh sein, dass du hier bist." Flüchtling: Es gibt kein Zurück. Nicht einmal zu einer Beerdigung. Flüchtling: Ein Aufwiedersehen ist oft ein Abschied für immer. Flüchtling: Konzentrierung von Dramen, Granaten, Schüssen, Folter, Trennungen, Krankheit, Toten. Und für all das kein Platz, nirgendwo. Flüchtling: Auf die Zuflucht, auf seinen Platz warten. Sich seinen Platz suchen. Oft ein Niemand sein. Wie den "Kleinen" herholen, wenn man selbst keinen Platz hat, wenn man ein "Niemand" ist? Zynismus der Bezeichnung "Gastland". Die verheerende Rolle des Platzes.

Ich träume von einer flachen, endlosen Erde. Ich habe die absurde Vision, dass die Verdorbenen, Verbissenen und Gierigen ihre Armeen von Einfaltspinseln ins Nirgendwo der Endlosigkeit schicken würden. Ich habe die absurde Vision, dass die bedrohten Tiere in andere Wälder fliehen könnten. Ich habe die absurde Vision, dass es nichts weiter bringen würde, ein Stück Land an sich zu reißen, weil dahinter immer ein anderes Stück Land käme. Ich habe die absurde Vision, dass die Armeen der Einfaltspinsel nach Hause zurückkehrten, weil sie zuletzt die Sinnlosigkeit ihrer Feldzüge erkennen würden.

Wölfe, die kämpfen
Der Mensch ist dem anderen Menschen zuweilen ein Wolf – solange er ihn nicht kennt.
imago/blickwinkel

Traum von einer leichten Erde

Ich träume auch von einer leichten Erde. Ohne jedes Gewicht. Nach dem Vorbild eines sorgenfreien Lebens. Wiegt im Laufe der Jahrtausende die Erde immer schwerer? Ja, sicher. Sie hat immer mehr Bewohner, Häuser, Fernseher, Telefone. Aber weniger Bäume, weniger Tiere. Ein Kind wird von einer Kugel getötet, ein anderes am anderen Ende der Welt durch künstliche Befruchtung geboren. Der Mensch beugt die Kurve des Schicksals und begradigt sie zugleich. Letzten Endes wird vielleicht immer ein Gleichgewicht hergestellt, wiegt die Erde immer gleich viel.

Aber was ist mit dem Menschen? Im Lauf eines Lebens sammelt er eine beeindruckende Menge von Gegenständen um sich herum an. Zumindest in unserer westlichen Gesellschaft. Selbst der mittellose Mensch ist von einer Vielzahl von Gegenständen umgeben. Und das Leben ist nun einmal eine Ansammlung von Erinnerungen, Worten, Hoffnungen und Verzweiflung. So ist es. Etwas Unwägbares. Der unausweichliche Lauf jedes Lebens: immer mehr Gewicht. Deshalb suchen manche einen Ausweg in der Ferne, das heißt, fern von allem, fern der Dinge, die man jahrelang um sich versammelt hat. Oder sie finden dort Zuflucht, wo es fast leer ist: in der Wüste, am Meer, in den Bergen. In der Almhütte. Für eine Weile. Um zu verschnaufen. Um Atem zu schöpfen und leichter zu werden. Um Platz zu haben? Auch um sich vielleicht der Illusion hinzugeben, der absteigenden Kurve des Lebens zu entkommen?

Jedes Leben endet mit seinem Verlust, es ist kein Scheitern, sondern nur eine Auf-Lösung. Mit der Zeit löst sich das Leben auf. Es löst auf, was es erschaffen hat. Auf individueller Ebene äußert sich das im Verlust geliebter Menschen. Auf intimer Ebene beginnt der Körper genau im Moment der Fülle des Lebens zu fehlen. Die Bewegung ist kaum wahrnehmbar, man hält die Gemächlichkeit noch für Sanftheit, die Stimme klingt weniger fest, die Arme können weniger tragen, die Finger zerknautschen die Tischdecke. Langsam untergräbt es die Seele, wir sind nicht mehr das, was wir einmal waren.

Auflösung

Die Jugend verfliegt, nimmt in anderen Körpern Gestalt an, in anderen Augen, die uns schonungslos mustern. Auch mit dem Kopf geht es bergab. Eine kleine Absenz im Kreis der Seinen, Gefühle, die erlöschen, Erinnerungen, die verblassen. Beim letzten Debakel, Worte, die, einmal ausgesprochen, unauffällig aufeinanderprallen, Worte, die nicht mehr zusammenkommen, aber trotzdem noch Sätze bilden. Seltsame, sinnlose Sätze: "Was erzählt uns der Opi da noch?" Wir wechseln von der aufsteigenden zur absteigenden Kurve. Wir verlieren. Wir lösen uns auf. Kapitulation. Die Niederlage, die Auflösung als natürlicher Vorgang. Das Leben ist stets nur eine Niederlage.

"Mir ist so kalt, dass ich keine Stimme mehr habe." Der Satz stand mit Kohle geschrieben an der Kellerwand eines ukrainischen Dorfs. Ich habe ihn gerade in einer Zeitung gelesen, ich bin zu Hause, und mir ist kalt. Ich möchte ein Kaminfeuer machen, habe aber keine Streichhölzer mehr. Ich erinnere mich an die winzige, blau-gelbe Schachtel, die ich von einem Tisch in einer Asylunterkunft eingesammelt hatte, aus der gerade Ukrainer fortgegangen waren. Ich hatte gezögert, die kleine Streichholzschachtel in meine Hosentasche zu stecken. Schließlich steckte ich sie ein, um die intensiven Tage nie zu vergessen. Die müden Gesichter. Die dunklen Augenringe. Die Stille. Und trotz allem das Lächeln, die Erleichterung, hier zu sein. Gerettet zu sein. Aber auch die stummen Grimassen der Angst. Um die anderen, die in der Heimat geblieben waren. Um diejenigen, deren Tod sich bereits abzeichnete.

Ich erinnere mich an die Augen, die Hände, die fortwährend am Handy waren. Ich erinnere mich an die überhitzte Kantine, an die Gerichte, die serviert und kaum angerührt wurden. Ich erinnere mich an die, die zu mir kamen und nach ... Salz?, Pfeffer?, Zucker? fragten. Ich verstand sie nicht. Ich erinnere mich an die Lösung: Google-Übersetzer. Für Salz, Pfeffer und Zucker funktioniert es. Für alles andere, für das Drama, funktioniert es nicht. In keiner Übersetzung, in keiner Sprache, mit keiner Vokabel. Dramen werden nie zu Worten. Sie sind zu tief in den Leibern verankert oder hinter den Pupillen verborgen.

Mörderischer Wahnsinn

Das erste deutsche Wort, das die Ukrainer lernten: Danke. Ich wollte keinen Gebrauch von der blau-gelben Streichholzschachtel machen. Ich wollte, dass sie eine intakte Erinnerung an ein zerstörtes Land bleibt. Aber mir ist so kalt. Das Streichholz knackt, die zarte Flamme entspringt. Ich beobachte, wie die Flamme das Holz entzündet, und schweige. Ich denke an den mörderischen Wahnsinn des Krieges. Ich denke an die Endlichkeit als Sprungbrett für den Krieg. Ich denke an diese "großen" kleinen Männer, die in der Endlichkeit ihres Körpers gefangen sind und versuchen, ihr zu entkommen, indem sie andere blindlings ihrem Verlangen nach Eroberung einer Region oder eines anderen Landes, nach immer mehr, unterwerfen.

Ich stecke die Schachtel in meine Tasche. Sie ist immer bei mir. Eines Tages zeige ich sie einer Ukrainerin. Ich will ihr sagen: "Ich stehe dir bei, sieh nur, was ich immer in meiner Tasche habe." Sie betrachtet die kleine Schachtel, dreht sie um. Und sagt mit einem Seufzer: "Die Inschrift auf der Rückseite ist auf Russisch."

"Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf", das ist eine zeitlose Wahrheit. Vor allem ist es eine Tautologie. Ich träume von etwas, das es nicht gibt, von etwas, das es nie geben wird. Ich habe diese Sehnsucht nach etwas, das es nie gegeben hat. Ich hänge an meinem Traum: Wäre die Erde leicht, würde sie unter dem Gewicht schwerer Waffen in die Luft sinken. Es gäbe auf ihr keinen Platz für sie. Wäre die Erde flach und endlos, würden wir uns nicht länger im Kreis drehen und übereinander herfallen. (Hélène Alice Bailleul, 17.6.2023)