Das zerstörte Butscha
Die zerstörten Häuser von Butscha.
IMAGO/ZUMA Wire

Sonntag, der 6. März, bildete eine Zäsur der Kriegsberichterstattung aus der Ukraine." An diesem Tag veröffentlichte die New York Times erstmals Bilder getöteter Zivilisten auf der Titelseite: eine Frau, zwei Kinder und deren Fluchthelfer. Sie waren beim Versuch, sich aus Irpin zu retten, von der russischen Armee gezielt unter Beschuss genommen worden. Bisher waren auf Aufmacherbildern nur zerstörte Häuser und Straßen zu sehen, Tote waren tabu. Von nun an kann man sie sehen – "man erkennt ihre Gesichter, sieht das Blut".

Nahbilder aus der Ferne

Die Massaker des russischen Militärs sind ein Wendepunkt in der Wahrnehmung und Erzählung, in der selbst das Tatsächliche, jenseits täuschender Propagandabilder, eine problematische Wirklichkeit bleibt. Marcel Beyer möchte diese Wirklichkeit dokumentieren: "Ich will berichten, was ich gesehen habe." Das heißt aber auch: "von dem zu erzählen, was ich nicht sehe". Denn der Schriftsteller ist dem Geschehen, das er beschreibt, "nicht ausgesetzt", er ist weder Akteur noch Opfer, ja nicht einmal unmittelbarer Beobachter.

Wie verarbeitet man vom Schreibtisch aus in der sicheren Zone die Fakten, und wann beginnt man als Schriftsteller zu erfinden? Beyer ist sich dessen bewusst, dass seine Nahbilder aus der Ferne kommen, die Augenzeugenschaft aus den Medien bedeutet eine neue Dimension. Genau das hat er am Beispiel des Krieges in der Ukraine in zwei Poetikvorlesungen im Sommersemester 2022 an der Universität Wuppertal thematisiert.

Selbst für jemanden, der Medien selektieren, Propaganda und Inszenierung hinterfragen kann, ist faktuales Erzählen in Zeiten des Krieges eine Schwierigkeit. Vor allem: Wie kann man das Unsägliche, Unvorstellbare beschreiben? Schließlich: Der Verzicht auf Fiktion bedeutet für den Schreibenden keinen Ausschluss von Imagination. Marcel Beyer setzt bei jenen von der Kriegsberichterstattung festgehaltenen Bildern an, die irgendwann am Betrachter als gewöhnlich vorbeigehen. Der Wiederholungseffekt führt dazu, dass bestimmte Dinge nicht mehr wahrgenommen werden. Zum Beispiel Tiere auf Kriegsbildern: vor Angst erstarrte Haustiere, aber auch deren Abwesenheit – fehlende Krähen am Morgen des 24. Februar. Aber wäre das nicht obszön, fragt Beyer, den Blick auf Nebensächliches zu richten, wenn im selben Augenblick Menschen zu Tode kommen?

Den Tod einfangen

Auf dem Bild einer Straßenszene aus Irpin entdeckt Beyer einen Mann, der sich über einen Hund beugt und ihn offenbar zu beruhigen versucht. Es gibt eine "Trostspur", schreibt er, und eine "Blutspur", und manchmal kreuzen sich "die Blutspur der Tiere und die Blutspur der Menschen".Die Fotografen, die sich der unmittelbaren Gefahr aussetzen und manchmal von einem Rechercheeinsatz nicht mehr zurückkehren, sind imaginär mit auf dem Bild. So lebt auch das Unsichtbare darauf weiter. Solche Bilder, erst recht jene, die in einem Augenblick vor dem Tod aufgenommen wurden, verändern für den Autor die Wahrnehmung der Welt.

Irgendwann beginnt er vor schwarzen Plastikfolien, schwarzen Plastiksäcken und Planen, die er zu Hause am Straßenrand oder auf einer Wiese liegen sieht, zu erschrecken, weil sie die Bilder von Leichensäcken wachrufen, wie man sie aus dem Kriegsgebiet kennt. Angesichts der vielen Berichte vom "seelenlosen Verhalten russischer Soldaten" fühlt man sich ohnmächtig gegenüber einer Wirklichkeit, die irgendwann unerzählbar wird. Wie aber soll der, der dokumentieren möchte, mit dem "Nicht-Erzählbaren" umgehen?

Marcel Beyer
Marcel Beyer, "Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha". € 20,60 / 144 Seiten. Wallstein, Göttingen 2023
Verlag

Tonlose Stimmen

Zum Beispiel mit jenem Handyvideo, aufgenommen durch die Windschutzscheibe eines Autos am 2. April 2022 im Umland von Kijyw. Aus dem Off hört man die Stimmen des Fahrers und des Beifahrers: die "tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten" auf den Straßen von Irpin, Shytomyr und Butscha. Je eindringlicher, eigentlich: unaussprechlicher die Bilder, umso knapper registriert die Sprache des Autors die Wirklichkeit.

Vermutlich ist der Krieg in der Ukraine, von Twitter bis hin zu Drohnenaufnahmen, der bisher am besten dokumentierte. Das macht die Herausforderung, von ihm zu erzählen, nicht geringer. Beyers essayistische Notate mit Blick auf die Details sind eine ebenso faktuale wie poetische Erzählung, entlanggeschrieben übrigens an einem 1923 veröffentlichten Text des russischen Schriftstellers Viktor Schklowski, der für dieses Buch neu übersetzt wurde: die Beschreibung des menschlichen Elends (und auch des Elends der Tiere!) im belagerten Petersburg während des russischen Bürgerkriegs 1919/20.

Im Kontext dieser Beschreibung erscheinen Beyers Reflexionen noch wahrhaftiger – nicht zuletzt auch deswegen, weil er sich immer klar von jenen abgegrenzt hat, die in dem Krieg eine eigene Dynamik erkennen wollen, anstatt Russland als Aggressor beim Namen zu nennen. (Gerhard Zeillinger, 16.6.2023)