Russisches Imperium in Flammen
Red Square, Moscow Kremlin on the background of a flame.
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Nein, das ist nicht mehr sein Moskau. Es ist nicht mehr sein Russland. Da ist sich Michael Thumann, seit 30 Jahren Journalist in Diensten der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit, sicher. Das Russland, das er einst als Slawistik-Student Mitte der 1980er-Jahre kennengelernt, dann später, von 1996 bis 2001 – die späten Jelzin-Jahre –, als Korrespondent erlebt hat, ein zweites Mal 2015/16 und neuerlich seit 2021, ist untergegangen. Es ist demontiert, dekonstruiert, zerstört. Von Putin und seinen Schergen.

Thumanns Buch Revanche ist nicht nur ein sehr flüssig geschriebener Anamnese-Bericht – es ist ein Obduktionsbefund, der Nekrolog auf ein Land, mit blutendem Herzen geschrieben; und für einen deutschen Journalisten mit ungewöhnlicher Emphase zu Papier gebracht.

Kolonie des Schreckens

In fünfzehn mit Verve geschriebenen Kapiteln zeichnet Thumann das Bild eines sich immer stärker verfinsternden Russland. Das sich mehr und mehr abschottet – seit Abschluss des Manuskripts im Winter hat sich das ja noch verstärkt. Das zum Schurkenstaat wird, zu einer Kolonie des Schreckens nach außen wie nach innen. Inklusive Denunziationswesen und Straflagerkolonien. Es ist auch eine Studie über einen pathologischen Charakter, Wladimir Wladimirowitsch Putin, der sich – als Erster seit Stalin – wieder ein ganzes Land unterwarf.

Und hierfür – und diese Passagen und Kapitel sind besonders eindrucksvoll wie bedrückend zu lesen – bereitwillige Schergen und Handlanger und Propagandisten in den Medien fand und findet.

Michael Thumann
Michael Thumann, "Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat". € 25,70 / 288 Seiten. C. H. Beck, München 2023.
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Pessimistisch und bedrückt

Thumanns Fazit: Das Russland nach Putin wird ein vieler Hoffnungen verlustig gegangenes, um eine ganze Generation beraubtes, ökonomisch rückständiges und volkswirtschaftlich um ein halbes Jahrhundert zurückgeworfenes Land sein. Ob es überhaupt noch einmal für demokratische Basisprinzipien zugänglich sein oder ob es nicht den Weg eines geografisch um ein Vielfaches größeres Nordkorea einschlagen wird, einer extrem gespaltenen, ideologisch autistisch abgeschotteten Diktatur von Militär, Geheimdiensten und medialer Gehirnwäsche, eines solchen Ausblicks enthebt sich Thumann, klugerweise.

Ebenso pessimistisch und bedrückt ist der aus Norddeutschland stammende Olaf Kühl. Bis 2021 war er 33 Jahre lang Russisch-Dolmetscher, dann Osteuropa-Referent des Regierenden Bürgermeisters von Berlin und fertigte nebenbei sehr gute Übersetzungen aus dem Polnischen an, unter anderem übertrug er Bände von Witold Gombrowicz, Andrzej Stasiuk, Szczepan Twardoch und Adam Zagajewski und aus dem Russischen zuletzt die Kriegsreportagen Arkadi Babtschenkos.

Wer, fragt er am Schluss seiner interessant wie kundig mäandernden Analyse, wer wäre denn in der Lage und willens, Putin zu stürzen? Seine ernüchternde Antwort: aus Russland heraus niemand.

Serhii Plokhy
Serhii Plokhy, "Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt". € 26,80 / 496 Seiten. Hoffmann und Campe, Hamburg 2023.
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Vom Überfall und von Basispathologien

Erhellender als Kühl und erstaunlich gut, ja lebendig geschrieben ist Serhii Plokhys Chronik des laufenden Überfallkriegs gegen die Ukraine ab dem 24. Februar 2022. An dem Tag war er, wie es der Zufall wollte, gerade in Wien.

Der ukrainisch-amerikanische Historiker, 1957 in der russischen Stadt Gorki, vormals Nischni Nowgorod, geboren, in Saporischschja in der Ukraine aufgewachsen, ausgebildet in Dnipropetrowsk und Moskau, 1996 nach Kanada ausgewandert, dort an der University of Alberta in der Eishockeyhochburg Edmonton Professor und seit 2007 Ordinarius und Direktor des Ukrainian Research Institute an der Harvard University – auf dem idyllischen Campus dieser Elitehochschule in Cambridge sind er und sein Department in einem pittoresken, weiß gestrichenen Holzhaus mit viel Rasen drumherum untergebracht –, hat viele sehr kluge Bücher über die Ukraine und Osteuropa geschrieben; und ist erst infolge des Kriegs auch von deutschen Verlagen entdeckt worden.

Nachzulesen, in welchen Schritten sich in den ersten zehn Monaten Russlands Krieg vollzog, ist instruktiv, weil nicht weniges inzwischen von Stakkato-Tagesimpressionen überdeckt und verschattet worden ist. Plokhys Zugriff ist ungewöhnlich. Er blendet sich immer wieder ein – ein Teil seiner Familie wohnt noch heute in der Ukraine –, und dabei ist er intellektuell brillant. Und ein geradezu eleganter Erzähler.

Er entblößt auch erbarmungslos die Blindheit des Westens und seine ökonomische Ergebenheit – Boris Johnsons Tories erhielten bemerkenswert große Spenden von in "Londongrad" lebenden russischen Oligarchen – und Naivität (Macrons Telefondiplomatie). Sein Ausblick ist, Stand Ende 2022, optimistisch: Die Ukraine wird Russland aus dem Land drängen und, geeinter denn je, sich danach modern, also ganz nach Westen, ausrichten.

Antony Beevor
Antony Beevor, "Russland. Revolution und Bürgerkrieg 1917–1921". € 41,20 / 672 Seiten. C. Bertelsmann, München 2023.
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Stimmen "von unten"

Der 1948 geborene Engländer Antony Beevor hat sich in den letzten dreißig Jahren einen Namen als Historiker des Zweiten Weltkriegs gemacht. Eine Monografie über den Spanischen Bürgerkrieg beendete seine erste Werkphase, die wie bei seinem viel jüngeren Landsmann James Holland, der inzwischen auch alle großen Schlachten und Invasionskampagnen des Zweiten Weltkriegs nacherzählt hat, aus Romanen bestand, bevor er dazu überging, erfolgreiche Sachbücher zu verfassen und den so fürchterlichen, so verheerenden Globalkrieg Mitte des 20. Jahrhunderts nachzuerzählen.

Nun legt er eine ausgreifende Darstellung des Revolutions- und Bürgerkriegs in Russland zwischen 1917 und 1921/22 vor. Beevor, der in nicht wenigen Archiven persönliche, subjektive Aufzeichnungen ausfindig machte, auf die er sich in erster Linie stützt, schildert gut lesbar, abwechslungsreich und multiperspektivisch ein halbes Jahrzehnt extremer Grausamkeit.

Ebendiese vielen Stimmen "von unten" machen den Unterschied zu anderen Darstellungen aus, etwa zur mehrbändigen Revolutionsgeschichte des jüdisch-polnischen Harvard-Historikers Richard Pipes, die vor etwas mehr als 30 Jahren auf Deutsch erschien.

Olaf Kühl
Olaf Kühl, "Z. Kurze Geschichte Russlands, von seinem Ende her gesehen". € 24,70 / 224 Seiten. Rowohlt, Berlin 2023
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Realitätsleugnender Dogmatismus

Wieso nun diese augenscheinlich abgeschlossene Frühphase der Sowjetunion, die damals noch nicht so hieß, sondern aus der Asche des untergehenden Zarenreichs erstand, nachlesen? Weil sich verblüffend viele Muster der folgenden einhundert Jahre in Russland und entlang seiner sibirischen wie asiatischen Ränder damals bereits formierten. Von Anfang an war brutale Gewalt das Mittel der Wahl, sich, koste es, was es wollte und brauchte, an der Macht zu halten.

Lenins Arbeiter-und-Bauern-Staat, der sich zu Anfang auf die revoltierenden, dann revolutionären Kronstädter Matrosen stützte, ließ diese, als sie dann etwas später sozialdemokratische Mitsprache einforderten, gnadenlos füsilieren und löschte eine effiziente Bauernschaft nahezu aus. Durch Planwirtschaft. Durch den Holodomor in der Ukraine. Durch brachialste Industrialisierungspläne.

Auch anderes findet sich hier schon. Ehern realitätsleugnender Dogmatismus. Xenophobie. Das permanente Gefühl, als Russe unterlegen zu sein. Servilitätsdenken, das sich einem Terrorregime bereitwillig fügte. Der Glaube an einen "Führer".

Die Methoden der Bolschewiki waren damals schon menschenverachtend – Stalin, Ex-Bankräuber und Ex-Guerillero, führte gnadenlos Massaker an vielen Tausend Zivilisten aus – und waren erstaunlich deckungsgleich mit jenen der sogenannten Weißen, der feudal-aristokratischen Monarchisten, die zutiefst antisemitisch waren und ebenso brutal vorgingen, inklusive lokaler Warlords von abstrus pathologischer Grausamkeit.

Wer sich aktuell in Österreich "Kommunist" nennt, der sollte dieses Buch lesen. (Alexander Kluy, 18.6.2023)