Wo die Corona-Pandemie ihren Ursprung hatte, ist nach wie vor umstritten. Während zahlreiche wissenschaftliche Studien eher von einem tierischen Ursprung ausgehen – zuletzt will im März ein internationales Forschungsteam nach Analysen von Marderhund-Proben einmal mehr den Huanan-Wildtiermarkt in Wuhan als infektiologisches Epizentrum nachgewiesen haben –, halten offizielle Stellen in den USA einen Laborunfall im Institut für Virologie in Wuhan (WIV) nach wie vor für die wahrscheinlichste Quelle des Sars-CoV-2-Virus.

Ein aktueller Bericht im US-Medium "Public", der sich auf Aussagen anonymer Personen innerhalb der US-Regierung stützt, präferiert nun erneut die Laborunfallhypothese. Demnach soll sogar "Patient null", also die erste mit dem Virus infizierte Person, identifiziert worden sein. "Public" zitiert dabei "mehrere US-Regierungsbeamte", wonach es sich um den chinesischen Virologen Ben Hu handeln soll.

Eine der genannten Quellen ist sich laut "Public" "zu 100 Prozent" sicher, dass alles mit Hu begonnen habe. Verifizieren lässt sich dies freilich auf Grundlage der präsentierten Informationen keineswegs. Hinzu kommt, dass Michael Shellenberger, Gründer von "Public" und Co-Autor der Berichts, nicht unumstritten ist. Kritik erntete er unter anderem mit seinem Buch "Apocalypse Never", in dem er vor "Klimaalarmismus" warnt.

Security, Pandemie Corona Wuhan
Securitypersonal außerhalb des Instituts für Virologie in Wuhan. Glaubt man der Laborunfall-Hypothese, soll hier die Corona-Pandemie ihren Ausgang genommen haben.
Foto: REUTERS/Thomas Peter

Im Team von "Bat Woman"

Hu soll im Wuhan Institute of Virology jene Gruppe geleitet haben, die sich unter anderem mit der "Gain of function"-Forschung zu Sars-ähnlichen Coronaviren beschäftigte. Dabei werden Viren genetisch verändert, um mehr über ihre Ansteckungsrisiken bei Menschen herauszufinden. Der Virologe und seine Kollegen Yu Ping und Yan Zhu hätten schließlich im Herbst 2019 als Erste jene Symptome entwickelt, die sich später als charakteristisch für die Infektionskrankheit Covid-19 erweisen sollten.

Ben Hu arbeitete dem Bericht zufolge im Team von Shi Zhengli. Die chinesische Forscherin leitet das Zentrum für neu auftretende Infektionskrankheiten am WIV und gilt unter Anhängern der Laborhypothese als Hauptverdächtige für die Freisetzung des Coronavirus. Tatsache ist, dass die 59-jährige Wissenschafterin zu den weltweit führenden Coronaviren-Experten zählt und eine entscheidende Rolle bei der raschen Entschlüsselung von Sars-CoV-2 spielte. Shi, die 2020 von der Zeitschrift "Scientific American" den Beiname "Bat Woman" erhielt, wies freilich bisher jegliche Schuld von sich.

Umgang mit Viren

Dennoch kursierte bereits vor zwei Jahren der Verdacht, dass drei ihrer Mitarbeiter kurz vor dem Ausbruch der Pandemie erkrankt und in ein Krankenhaus eingeliefert worden sein sollen. In einem Interview in der "New York Times" Anfang Juni 2021 beteuerte Shi, sie wisse nichts von erkrankten Mitarbeitern und sei sich völlig sicher, "nichts Falsches getan zu haben". Wie sicher der Umgang mit den Viren im WIV tatsächlich war, lässt sich wohl kaum mehr beurteilen. Ein am 29. Dezember 2017 im chinesischen Staatsfernsehen ausgestrahltes Video, in dem auch Ben Hu zu sehen ist, zeigt jedoch Laborarbeiter, die beim Hantieren mit Proben und Fledermäusen keine geeignete Schutzkleidung trugen.

Der nun in "Public" erschienene Bericht zitiert auch die Harvard-Molekularbiologin Alina Chan. Ihr zufolge sei Ben Hu gleichsam "Starschüler" von Shi gewesen. "Hu hat mit Sars-ähnlichen Viren gearbeitet und diese an Mäusen getestet. Wenn ich raten müsste, wer bei dieser riskanten Virenforschung am meisten Gefahr läuft, sich versehentlich anzustecken, wäre er es", meinte demnach die Biologin, die auch als Co-Autorin an einem Buch zum Ursprung der Pandemie mitgeschrieben hat.

Offizieller Bericht

Ob tatsächlich etwas am von "Public" vorgestellten "Patienten null" dran ist, könnte sich nächste Woche weisen. Dann nämlich will das U.S. Directorate of National Intelligence bisher als geheim eingestuftes Material zu der Angelegenheit veröffentlichen. Grundlage dafür ist ein von US-Präsident Joe Biden Anfang des Jahres unterzeichnetes Gesetz, das die Freigabe von Geheimdokumenten zum Ursprung der Corona-Pandemie erleichtern soll. Vertreter des Wuhan Institute of Virology haben zu den neuen Berichten bisher nicht Stellung genommen. (Thomas Bergmayr, 16.6.2023)