Wien – Eine bemerkenswerte und durchaus brisante Entscheidung hat das Oberlandesgericht (OLG) Wien in der Causa Firtasch getroffen. Wie am Freitag in einer Pressemitteilung bekanntgegeben wurde, wurde die Wiederaufnahme des Verfahrens über die Auslieferung des ukrainischen Oligarchen Dmytro Firtasch bewilligt. Damit heißt es für das beim Wiener Landesgericht für Strafsachen anhängige, seit 2014 von den USA betriebene Auslieferungsverfahren zurück an den Start.

Die USA haben vor mittlerweile mehr als neun Jahren die Wiener Justiz um Auslieferung Firtaschs im Zusammenhang mit angeblichen Schmiergeldzahlungen an indische Politiker in Höhe von mindestens 18,5 Millionen US-Dollar ersucht, die im Zusammenhang mit einem nie realisierten Titangeschäft geflossen sein sollen. Firtasch bestreitet den Vorwurf, er habe sich in Indien ab 2006 gemeinsam mit anderen Personen als Teil einer kriminellen Vereinigung Lizenzen zum Titanabbau gesichert.

Jahrelanger Instanzenzug

"Natürlich ist diese Entscheidung eine große Erleichterung für unseren Mandanten. Herr Firtasch ist in hohem Maße dankbar, dass die unabhängige österreichische Justiz äußerst genau und objektiv die neu beigebrachten Tatsachen und Beweismittel geprüft und auf dieser Grundlage die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens bejaht hat", kommentierte der Anwalt des Ukrainers und ehemalige österreichische Justizminister, Dieter Böhmdorfer, die Gerichtsentscheidung vom Freitag. Trotz einer "schwierigen und belastenden Situation" sei das Vertrauen Firtaschs in den österreichischen Rechtsstaat nie erschüttert worden, sagte er.

Dmytro Firtasch bekommt eine neue Chance im Auslieferungsverfahren.
Dmytro Firtasch bekommt eine neue Chance im Auslieferungsverfahren.
APA/AFP/SAMUEL KUBANI

Firtasch war im März 2014 auf Betreiben der US-Behörden in Österreich festgenommen worden, kam aber gegen eine Kaution von 125 Millionen Euro auf freien Fuß. Seither beschäftigt das Auslieferungsverfahren mehrere Instanzen und gleicht einem juristischem Pingpongspiel über eine Marathondistanz: In erster Instanz entschied das Wiener Landesgericht für Strafsachen am 30. April 2015 gegen eine Auslieferung, weil die Anklage politisch motiviert sei. Das OLG Wien erklärte im Februar 2017 die Auslieferung jedoch für zulässig, worauf der Oberste Gerichtshof (OGH) tätig wurde. Im Verfahren über eine Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes und einen Erneuerungsantrag hemmte der OGH im Dezember 2017 die Durchführung der Auslieferung für die Dauer des Verfahrens und entschied im Juli 2019, dass – anders als vom OLG angenommen – zwar auch beim Vorwurf von "rein kriminellen Taten" geprüft werden müsse, ob das Ersuchen aus politischen Beweggründen gestellt worden sei. Der OGH billigte aber die Beurteilung durch das OLG, dass solche politischen Gründe nicht erwiesen seien.

Daraufhin beantragte Firtasch die Wiederaufnahme des Auslieferungsverfahrens und legte dazu zahlreiche neue Dokumente vor, darunter notariell beglaubigte schriftliche Zeugenaussagen. Das Wiener Landesgericht für Strafsachen wies den Antrag auf Wiederaufnahme im März 2022 ab. Der dagegen eingebrachten Beschwerde von Firtaschs Rechtsvertretern wurde nun allerdings vom OLG Folge gegeben, womit zugleich die Entscheidung desselben Gerichts aus dem Jahr 2017 aufgehoben wurde.

"Das Landesgericht für Strafsachen Wien wird nun auf der Basis der neuen Beweismittel neuerlich über die Zulässigkeit der Auslieferung zu entscheiden haben", teilte OLG-Sprecher Reinhard Hinger in einer ausführlichen Presseaussendung mit. Die aktuelle Entscheidung des OLG bedeute nur, "dass Gründe für die Wiederaufnahme vorliegen". Die Entscheidung in der Sache selbst obliege dem Erstgericht.

Eine Frage der Beweismittel

Dass das Auslieferungsverfahren de facto neu durchgeführt werden muss, liegt an vor vier Jahren von Firtaschs Rechtsvertretern ergänzend vorgelegten Beweismitteln, die von der Justiz bisher offenbar nicht ausreichend gewürdigt wurden, wie aus der OLG-Entscheidung hervorgeht. "Als zutreffend erweist sich, dass das Erstgericht die neu vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel teilweise nur isoliert, und zwar sowohl untereinander als auch in Bezug auf die bisherigen Tatsachen und Beweismittel betrachtet hat. Wenn das Erstgericht annimmt, dass die Zeugen ausschließlich Schlüsse aus geschilderten Erlebnissen ziehen und dass sich ihre Erlebnisse nur auf das grundsätzliche politische Interesse der USA in der Ukraine beziehen würden, unterschätzt es deren jeweilige berufliche oder politische Position und das Ausmaß und die Bedeutung ihrer persönlichen Wahrnehmungen", heißt es darin wörtlich.

Während das Oberlandesgericht damit Misstrauen an der Glaubwürdigkeit von Vertretern der USA artikuliert, fehlen in den ausschnittweise veröffentlichten Teilen der OLG-Entscheidung vergleichbare kritische Anmerkungen zu Zeugen der Verteidigung. Obwohl das OLG in seiner Aussendung die entsprechenden Passagen anonymisiert hat, lassen sich manche Zeugen wie Ex-Vizepremier Jurij Bojko oder Ex-Generalstaatsanwalt Wiktor Schokin unschwer identifizieren. Der ehemalige ukrainische Vizepremier Bojko, ein langjähriger politischer Weggefährte Firtaschs, erzählte in seiner Zeugenaussage etwa von einem Treffen der US-Spitzendiplomatin Victoria Nuland mit dem damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch im Dezember 2013, in dem diese Sanktionen gegen Firtasch angedroht habe. Mit Janukowitsch über dessen Gespräch mit der US-Diplomatin will auch ein weiterer Zeuge gesprochen haben.

Die seit Jahren in der russischen Staatspropaganda als böse Verschwörerin dargestellte Nuland fungiert jedenfalls als zentrales Argument: Die neu beigebrachten Tatsachen und Beweismittel enthielten Hinweise auf konkrete Handlungen und Äußerungen der USA und insbesondere von Nuland in Bezug auf Firtasch im relevanten Zeitraum und erschienen somit in einer Gesamtschau geeignet, erhebliche Bedenken gegen die seinerzeitige Entscheidung vom Februar 2017 zu bewirken, die Auslieferung des Ukrainers für zulässig zu erklären, argumentierte das Gericht.

Offen bleibt in der nur auszugsweise veröffentlichten Begründung, welchen Zusammenhang es zwischen der Androhung von politischen Sanktionen im Dezember 2013 und der Einleitung eines Gerichtsverfahrens gegen Firtasch in Chicago im Juni 2013 gegeben haben soll - letzteres dient als Grundlage für das US-amerikanische Auslieferungsbegehren. Nicht erwähnt wird zudem, dass Firtasch im Februar 2014 de facto die Seiten wechselte und sich sein Fernsehsender "Inter" kurz vor dem Machtwechsel in Kiew ebenso gegen Präsident Janukowytsch positionierte.

Landesgericht nun am Zug

Die nun vorliegende Entscheidung des OLG ist rechtskräftig. Sämtliche Beweismittel inhaltlich würdigen muss das Landesgericht für Strafsachen, das zu klären haben wird, ob auf deren Basis die Auslieferung zulässig oder unzulässig ist. Dabei wird auch zu prüfen sein, ob Firtasch allenfalls diplomatische Immunität zukommt. "Die genannte Person hat in Österreich keine diplomatische Immunität", erklärte indes eine Sprecherin des österreichischen Außenministeriums am Freitag auf APA-Anfrage. Nicht kommentieren wollte sie die Frage, welche außenpolitischen Konsequenzen das Ministerium im Zusammenhang mit der Gerichtsentscheidung sehe.

Wenn rechtskräftig entschieden würde, dass die Auslieferung zulässig ist, hätte Justizministerin Alma Zadić (Grüne) bzw. deren allfällige Nachfolgerin oder Nachfolger zu entscheiden, ob sie auch durchgeführt wird. Wenn rechtskräftig entschieden würde, dass sie unzulässig ist, käme die Auslieferung nicht in Betracht.

Firtasch sei bis 2014 einer der reichsten sowie einflussreichsten Oligarchen des Landes gewesen, habe aber im Zug des Kriegs im Osten der Ukraine sowie der russischen Annexion der Krim einen beträchtlichen Teil seines Firmenbesitzes verloren, erläuterte der Kiewer Politologe Wolodymyr Fessenko am Freitag der APA. Seit 2014 sei der Ukrainer nicht mehr in seiner Heimat gewesen, die politische Relevanz von ihm und seinen Mitstreitern sei seit damals sukzessive kleiner geworden. Nach dem Beginn der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 sei Firtaschs Einfluss dann praktisch völlig verschwunden, betonte Fessenko. "Jetzt zählt er nicht einmal mehr zu den ukrainischen Dollarmilliardären, sondern gilt nur noch als Multimillionär", erläuterte der Experte.

Was die von Firtasch aufgebrachte Kaution anlangt, dank derer er 2014 auf freien Fuß gesetzt wurde, sind die bei der Justiz erlegten 125 Millionen Euro von der aktuellen OLG-Entscheidung vorerst nicht betroffen. Wie die Sprecherin des Wiener Landesgericht für Strafsachen, Christina Salzborn, dazu am Freitag auf APA-Anfrage erläuterte, habe das OLG den ursprünglichen Haftbeschluss nicht aufgehoben. "Die OLG-Entscheidung tangiert daher derzeit die Kaution nicht", sagte Salzborn. (APA, 16.6.2023)