Der Tag hat 24 Stunden, und so lange ist auch das Wasser unterwegs. Von den Quellen rund um Kaiserbrunn in Niederösterreich fließt es, nur mithilfe der Schwerkraft, rund 100 Kilometer durch die I. Wiener Hochquellenleitung zu den Wasserhähnen der Bundeshauptstadt. Seit 25 Jahren gibt es für Interessierte die Möglichkeit, den Weg des Wassers nachzuwandern. Keine Angst: Man hat dafür ein bisschen mehr Zeit.

Der Wiener Wasserwanderweg, wie er offiziell heißt, führt entlang der I. Wiener Hochquellenleitung, die heuer 150 Jahre alt wird. Er soll, so ist zumindest die Idee, deren schönste Abschnitte abdecken. Aufgeteilt ist die Strecke auf zwei Tagestouren, deren Ausgangs- und Endpunkte von Wien aus gut öffentlich erreichbar sind. Wer will, der kann bei diesen Wanderungen viel über die Wasserleitung erfahren, die ein Grund dafür ist, dass Wiener ständig mit der Qualität ihres Leitungswassers angeben müssen. Wer das nicht will, der kann auch einfach nur wandern.

Durchs Höllental

Der erste Teil des Wasserwanderweges, der 1998 zum 125. Bestehen der Hochquellenleitung angelegt wurde, führt von Kaiserbrunn nach Gloggnitz. Für die 19 Kilometer braucht man etwa fünf Stunden. Mit ein bisschen körperlicher Fitness schafft man es auch in viereinhalb. Von Wien aus nimmt man den Zug nach Payerbach-Reichenau und informiert sich vorab, wann der Anschlussbus Richtung Schwarzau im Gebirge fährt. Dieser lässt die Rax-Seilbahn links liegen, schlängelt sich über die B 27 durch das Höllental und hält dann irgendwann in Kaiserbrunn, dem Ausgangspunkt der Hochquellenleitung. Hier kann man nicht nur die historischen Bauten der Leitung sehen. Die MA 31 (Wiener Wasser) hat auch ein kleines Museum eingerichtet, das an Wochenenden bei freiem Eintritt geöffnet hat. Und man findet hier auch den Anfang des Wasserwanderwegs, wenn man ein bisschen sucht.

Man muss kein Sportler sein, um den Weg zu gehen.
Man muss kein Sportler sein, um den Weg zu gehen.
Fabian Weiss / laif / picturedes

Der erste Teil des Weges ist der landschaftlich interessantere: Hier geht’s durch das Höllental, das Schneeberg und Rax trennt. Der Weg, eingerahmt von den beiden Bergmassiven, folgt quasi der Busstrecke zurück, entlang der Schwarza. Hier ist es körperlich ein wenig anstrengend: Es geht bergauf und bergab, von Aussichtspunkten hoch oben bis fast runter zum Fluss. Stellenweise geht es über Steiganlagen, also metallene Stiegen oder kleine Brücken im Berg. Man muss kein Sportler sein, um den Weg zu gehen. Festes Schuhwerk und die berühmte "Trittsicherheit" sind aber angeraten. Im Boden verborgene Steine und Wurzeln können Wanderer leicht zu Fall bringen.

Die Zahlen und Fakten zur Wiener Wasserversorgung sind, wie man es bei einer Großstadt erwarten würde, beeindruckend. Insgesamt 330 Kilometer, verteilt auf zwei Hochquellenleitungen, bringen täglich bis zu 237 Millionen Liter Wasser nach Wien. Im Quellgebiet rund um den Schneeberg sind 675 Quadratkilometer, circa das 1,6-Fache der Fläche Wiens, als Wasserschongebiet ausgewiesen. 335 Quadratkilometer davon gehören der Stadt, sodass man auch auf niederösterreichischem Gebiet ständig auf Forsthäuser der MA 49 (Klima, Forst- und Landwirtschaftsbetrieb) trifft. Das Wasser, das durch die Leitungen fließt, ist von einer Qualität, als würde man es direkt aus der Quelle trinken. Und ein bisschen ist das auch so, auch wenn da eben knapp 100 Kilometer dazwischenliegen.

Etwas verwirrend

Kleine blau-weiße Schilder führen den Wanderer den Wiener Wasserwanderweg entlang. Wie von den Stadtwanderwegen bekannt, ist die Beschilderung ausreichend, aber stellenweise verwirrend. Man gewöhnt sich schnell daran, dass ständig Pfeile in entgegengesetzte Richtungen zeigen (der Weg kann in beide Richtungen begangen werden). Aber die Stadt Wien wird wohl nie lernen, dass ein Hinweisschild auch bei Weggabelungen im Wald sinnvoll wäre. Es gilt eine alte Wanderweisheit: Wenn man sich zunehmend fragt, ob man noch auf dem richtigen Weg ist, ist die Antwort meistens nein.

Talfahrt: Eine Teilstrecke des Wasserwanderwegs kann man durchaus auch paddelnd zurücklegen.
Talfahrt: Eine Teilstrecke des Wasserwanderwegs kann man durchaus auch paddelnd zurücklegen.
Fabian Weiss / laif / picturedes

Hat man das Höllental einmal durchschritten, wird es gemütlicher. Die restlichen circa 13 Kilometer von Hirschwang bis Gloggnitz führen durch das Schwarzatal über gerades Land, entlang des Werkskanals der heutigen Kartonfabrik, der Schienen der Höllentalbahn und immer wieder quer und längs zum Fluss. Man durchquert Reichenau an der Rax, den alten Kurort an der Südbahn, wo die Kaiserfamilie ihre Sommer verbrachte und der mit seinen mondänen Villen immer noch den Charme des Sommerfrische-Orts versprüht, zumindest teilweise. Wer es gemütlich mag, der kehrt in der Konditorei Nöbauer ein. Und wer es noch gemütlicher mag, der geht gar nicht erst weiter nach Gloggnitz, sondern nimmt nach etwa drei Stunden Wanderung wieder den Zug in Payerbach-Reichenau.

Die I. Wiener Hochquellenleitung, deren Verlauf man da entlangwandert, ist ein – hier passt das Wort einmal – visionäres Projekt. Mit ihrer Eröffnung im Jahr 1873 war nicht nur die Versorgung der Stadt mit Trinkwasser sichergestellt. In Kombination mit der späteren Wienflussregulierung leitete sie auch das Ende des Zeitalters der großen Seuchen wie der Cholera ein, weil sie Hausbrunnen überflüssig machte. Zum Bauzeitpunkt war die Leitung 95 Kilometer lang, heute sind es durch die Erschließung von neuen Quellen insgesamt 150 Kilometer Rohr. 1910 wurde sie durch die weiter nördlich gelegene II. Wiener Hochquellenleitung ergänzt, die Wasser aus der Steiermark nach Wien bringt. Die Kapazitäten der beiden Hochquellenleitungen sind noch heute ausreichend für die Millionenstadt Wien. Nur in großen Hitzeperioden muss man zusätzlich auf Grundwasser zurückgreifen.

Der zweite Tag ist einfacher

Belohnung am ende Nachdem man am ersten Tag schon einige Kilometer gemacht hat, ist die Anreise am zweiten logischerweise noch einfacher. Die zweite Etappe startet in Bad Vöslau und führt die Thermallinie entlang über Baden nach Mödling. Der Weg führt hier öfter durch Städte, wo er nicht exakt entlang der Route der Hochquellenleitung verläuft. Nachdem diese aber ohnehin unterirdisch verläuft, ist das verkraftbar. Der zweite Tag ist etwas einfacher als der erste: Der Weg ist ein Stück kürzer, die Steigungen in den Weinbergen sind gemächlicher als im Höllental. Es sind aber trotzdem insgesamt 18 Kilometer, für die man etwa dreieinhalb bis vier Stunden benötigt. Wer es kürzer mag, der geht nur eine Teilstrecke.

Wanderer am Wasserleitungsweg nahe Guntramsdorf
Wanderer am Wasserleitungsweg nahe Guntramsdorf.
Wiener Wasser / Johannes Zinner

Der Weg durch die Weinberge südwestlich von Wien wird durch die alten Einstiegstürme zur Wasserleitung flankiert, die in regelmäßigen Abständen wie kleine Wachhäuschen in der Landschaft stehen. Sie sind architektonische Erinnerungen an eine vergangene Zeit, genauso wie das 700 Meter lange Aquädukt Baden mit seinen 42 Bögen, das das Helenental und die Schwechat überspannt. Von Bad Vöslau aus führt der Weg über Sooß nach Baden, vorbei am Thermalstrandbad und Kasino. Die Strecke zwischen Baden und Mödling, die längere der beiden Teilstrecken, führt wieder direkt durch die Weinberge und die oberen Ausläufer von Gumpoldskirchen, die sich für eine Rast beziehungsweise Einkehr anbieten. Schließlich geht es dann bergab nach Mödling. Nach zwei Tagen und etwas über 37 Kilometern ist man so fast wieder in Wien angekommen. Das Wasser ist schneller. Es kommt allerdings am Weg auch in keine Konditorei. (Jonas Vogt, 19.6.2023)