Ein Mann in St. Petersburg vor einem Plakat, das für den Einsatz im Krieg gegen die Ukraine wirbt.
Ein Mann in St. Petersburg vor einem Plakat, das für den Einsatz im Krieg gegen die Ukraine wirbt.
EPA / Anatoly Maltsev

Der "Reservist", wie der Mann in den Unterlagen seines Anwalts genannt wird, stammt aus einer entlegenen Ecke der Russischen Föderation. Er gehört der ethnischen Minderheit der Burjaten an, ist Buddhist und Familienvater – und möchte nicht im Krieg gegen die Ukraine kämpfen. Als seiner Mutter im September 2022 ein Einberufungsbefehl der russischen Armee für ihn übergeben wird, verlässt er das Land.

Mit einem gültigen Visum reist er legal nach Österreich ein und beantragt im Oktober 2022 hier Asyl. Das Protokoll seiner Erstvernahme durch Beamte des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) liegt dem STANDARD vor. "Dieser Krieg ist gegen meine moralischen Prinzipien und meine Religion", wird der Reservist darin zitiert. Und: "Die Ukrainer sind keine schlechten Menschen, deswegen möchte ich sie nicht töten. Ich selbst möchte auch nicht getötet werden." Mit seiner offenen Ablehnung des Krieges sei er auch an seinem Arbeitsplatz zunehmend angeeckt.

Bei einer weiteren Einvernahme im vergangenen Dezember bekräftigt der Mann, sich nicht an Kriegsverbrechen auf ukrainischem Boden beteiligen zu wollen. Die russische Propaganda richte sich außerdem zunehmend gegen "den Westen" – einen Teil der Welt, in dem er Familie habe. "Ich möchte nicht gegen sie sein", sagt er. "Die russische Regierung will meine Familie auseinanderbringen. Aber ich bin dagegen." Bei einer Rückkehr nach Russland, gibt der Reservist zu Protokoll, befürchte er eine mehrjährige Freiheitsstrafe wegen Wehrdienstverweigerung und eine strafrechtliche Verfolgung wegen seiner "Antikriegsposition". Im Mai 2023 erhält er einen negativen Bescheid der österreichischen Asylbehörde.

Keine systematischen Menschenrechtsverletzungen?

Die angegebenen Gründe zum Verlassen des Heimatlandes seien "nicht glaubhaft bzw. asylrelevant", heißt es im Bescheid des BFA von Anfang Mai. Als erwachsener, gesunder und gut ausgebildeter Mann mit Familie im Land könne der Reservist sein Leben in Russland wieder aufnehmen. Die Generalmobilmachung sei bereits wieder beendet, der Mann habe darum keine Verfolgung zu befürchten: "Es können keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden, dass Sie Gefahr liefen, in der Russischen Föderation einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe bzw. einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen werden."

Und dann, auf Seite 81 des Bescheids, findet sich noch eine Begründung: "Auch kann die Behörde nicht davon ausgehen, dass die russische Armee systematische Menschenrechts- bzw. Völkerrechtsverletzungen begeht."

Es ist eine Behauptung, der im selben Bescheid widersprochen wird. Denn im Länderbericht über Russland, der dem Akt beigefügt ist, findet sich folgender Satz: "Russland begeht im Krieg gegen die Ukraine schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung." Auf Anfrage des Ö1-"Mittagsjournal" heißt es aus dem Innenministerium dazu: "Der zitierte Absatz aus dem Bescheid des BFA ist aus dem Kontext gerissen und stellt nicht die allgemeine rechtliche Beurteilung des BFA dar, da jeder Einzelfall individuell beurteilt wird."

Beschwerde bei Gericht

Der Anwalt des Reservisten legte gegen den Bescheid Beschwerde ein. Sie geht an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), das für Beschwerden gegen Behördenentscheidungen zuständig ist. Einer seiner vier Fachbereiche ist das Asyl- und Fremdenrecht. 

Die Neos-Abgeordnete Stephanie Krisper stellt jährlich parlamentarische Anfragen zur Entscheidungspraxis des Gerichts. Daraus geht hervor, dass das BVwG in den vergangenen Jahren im Durchschnitt in 41,8 Prozent der Fälle im Bereich des Asyl- und Fremdenrechts die Position des Beschwerdeführers und nicht der Behörde bestätigte. Das ist ein deutlich höherer Prozentsatz als in den anderen Zuständigkeitsbereichen des Gerichts. Auch der Reservist und sein Anwalt hoffen nun darauf, dass ihnen vor dem BVwG Recht gegeben wird. Ein Termin für das Beschwerdeverfahren steht noch aus. (Ricarda Opis, 19.6.2023)