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Das Social Network Tiktok steht wegen des Algorithmus im Zentrum der Kritik. Radikale Inhalte finden sich aber auch auf anderen gängigen Plattformen.
REUTERS/DADO RUVIC

Die jungen Männer hinter dem vereitelten Anschlag auf die Pride-Parade am vergangenen Wochenende wurden vermutlich nicht etwa über geheime Foren im Darknet, sondern über gängige Social-Media-Plattformen radikalisiert, wie der Terrorismusexperte an der Donau-Uni Krems, Nicolas Stockhammer, am Montag im Ö1-"Morgenjournal" erläutert: "Mittlerweile radikalisieren sich fast 80 Prozent jener, die sich radikalisieren, im Internet, über soziale Medien, auf Plattformen wie Tiktok und Twitch." Hier würden gezielt Inhalte angeboten, die adressatengerecht aufbereitet seien: Die Inhalte seien immer dieselben, aber die Aufmachung eine andere, es werde bewusst die Sprache der Jugendlichen gesprochen. 

Der Leiter der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN), Omar Hajawi-Pirchner, ergänzt, dass man im Rahmen der Ermittlungen umfangreiche Daten sichergestellt habe. Die Auswertung selbiger werde noch Zeit in Anspruch nehmen. In Bezug auf die Ermittlungsmethoden betont er, dass man weitere Befugnisse brauche, im Vorfeld einer möglichen Gefährdung die Kommunikation besser überwachen zu können, das gelte auch im aktuellen Fall. Teilweise geschehe derartige  Kommunikation auch über Chatfunktionen auf Spielekonsolen. Der Staatsschutz habe hier "keine Möglichkeit, die Kommunikation zu überwachen". 

Und auch der am Londoner Kings College tätige Extremismusforscher Peter R. Neumann erklärt im Gespräch mit der APA, dass es heute zwar vergleichsweise weniger Radikalisierung gebe, weil "die Netzwerke zerschlagen worden sind und es bestimmte radikale Moscheen nicht mehr in dem Ausmaß gibt, als das früher der Fall war". Dadurch habe sich jedoch auch die Rekrutierung von potenziellen Extremisten geändert: "Das Internet – und hier insbesondere Tiktok – spielt dabei eine wichtige Rolle", sagt Neumann.

Beliebt bei der Jugend

Die chinesische Video-App Tiktok ist auch in Österreich vor allem bei Jugendlichen sehr beliebt: Dem aktuellen "Jugend Internet Monitor" von Saferinternet.at zufolge wird die App hierzulande von 68 Prozent der Jugendlichen im Alter zwischen elf und 17 Jahren genutzt. Tiktok unterscheidet sich von den meisten herkömmlichen Social Networks vor allem dadurch, dass hier nicht zwingend Inhalte der direkten Kontakte angezeigt werden. Stattdessen entscheidet ein Algorithmus aufgrund des bisherigen Nutzerverhaltens und anderer Faktoren, welche Inhalte als Nächstes ausgespielt werden.

Neben diversen Datenschutzbedenken gegenüber der chinesischen App sorgt auch diese Auswahl der Inhalte immer wieder für Kritik. So hatten Expertinnen und Experten bereits Ende 2021 im Gespräch mit dem STANDARD bemängelt, dass sich Rechtsextreme und Fundamentalisten mit ihren radikalen Inhalten zwischen unschuldige Tanz- und Katzenvideos mischen können, wenn sie das System nur geschickt genug zu servicieren wissen. Dies geschieht etwa, indem sie populäre Hashtags in ihre Postings einbauen oder Schlagwörter bewusst falsch schreiben, die in einem Land verboten sind.

Neumann erneuert diese Kritik. So habe Tiktok noch nicht genug gegen derartige Probleme unternommen, sagt der Experte: "Solche Plattformen wachsen relativ schnell und bauen erst unter politischem Druck entsprechende Kapazitäten auf." Im Gegenzug tut sich der Staat schwer, inhaltliche Gegengewichte zu den Postings der Hassprediger zu entwickeln, so der Grundtenor in der Recherche des STANDARD. "Man hört dann etwa, dass der Staat mittels dieser 'Propaganda' versuche, einen 'staatsgenehmen Islam' zu etablieren, der natürlich im Widerspruch zum eigenen, vermeintlich einzig richtigen Islam steht", so die damalige Einschätzung des Politologen Rami Ali. "Die Logik dahinter ist einfach und für alle nachvollziehbar: Die 'Quelle' ist 'verschmutzt', also ist es der Inhalt auch."

Jung, hip, islamistisch

Allerdings dürfte das Problem nicht Tiktok allein betreffen. So veröffentlicht die Dokumentationsstelle politischer Islam im März 2023 eine Publikation unter dem Namen "Jung, hip, islamistisch", in welcher die Aktivitäten islamistischer Influencer beschrieben werden. Demnach wenden sich Initiativen mit professioneller Social-Media-Arbeit und aktionistischen Kundgebungen im gesamten deutschsprachigen Raum an eine junge Zielgruppe, indem bewusst auf ein modernes Auftreten geachtet wird.

Dabei werden aktuelle gesellschaftliche Anliegen im Sinne eines islamistischen Verständnisses umgedeutet und für die eigenen Zwecke instrumentalisiert. Die jeweiligen Initiativen sind zwar in Deutschland beheimatet, es werden der Studie zufolge jedoch immer wieder auch Aspekte der österreichischen Innenpolitik thematisiert. Eine starke Vertrautheit mit den hiesigen Verhältnissen werfe somit die Frage auf, inwiefern sich auch Menschen aus Österreich aktiv an dem Projekt beteiligen. Zumindest haben die Gruppierungen auch Follower aus Österreich, wie sich aus den Kommentaren schließen lässt. 

Adressaten dieser Kampagnen sind in erster Linie muslimische Jugendliche, die kaum merkbar oder gar unbewusst mit islamistischem Gedankengut vertraut gemacht werden und damit langfristig an den politischen Islam und ein geschlossenes Weltbild herangeführt werden sollen. Analysiert werden in der Publikation drei unterschiedliche Initiativen, und sie sind nicht nur auf Tiktok, sondern auch auf den Plattformen Instagram, Youtube, Facebook, Twitter und Telegram aktiv. Das inhaltliche Portfolio der erfolgreichsten Gruppierung dieser Art ist ein professioneller Mix aus Videos, Live-Talks, Chats und Diskussionsrunden.

"Das ganze LGBTQ-Zeug"

Dort komme es auch zu prononcierten Aussagen, in denen die Teilnehmer "das ganze LGBTQ-Zeug entschieden" ablehnen oder die Menschen- und Freiheitsrechte als "verlogenen eurozentristischen Kulturimperialismus des Westens" bezeichnen. Die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan begrüßt man hingegen als "Jihad" und prophezeit das Heranwachsen einer Generation von ähnlichen Glaubenskämpfern auch in Europa. (Stefan Mey, 19.6.2023)