ORF Rammstein Im Zentrum
Eine gemischte Runde beim vergeblichen Versuch, mit- und nicht gegeneinander über die möglichen Verfehlungen von Rammstein-Sänger Till Lindemann ins Gespräch zu kommen: "Im Zentrum" am vergangenen Sonntag auf ORF 2.
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Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte die Sorge möglichst aller Diskutierenden der Wahrung der Contenance zu gelten. Ein Teil der Stichhaltigkeit des eigenen Arguments bemaß sich an der Fähigkeit, das Überschießende des Temperaments zu zügeln. Man musste dem anderen nicht recht geben. Aber man nährte allein schon aus höflicher Neugier den Verdacht, es möge bessere Gründe geben als die paar wenigen, die einem selbst auf die Schnelle eingefallen waren. Das gilt nicht mehr. Zumal wenn man über Rammstein spricht.

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Potenziell jedes Gegenüber verdient es, Gehör geschenkt zu bekommen. Die Sache, für die es einsteht, darf nicht von vornherein verloren gegeben werden. Das (übrigens falsche) Voltaire-Zitat zum Sachverhalt knüpft ein so haarfeines Gespinst wie den menschlichen Schicksalsfaden an die Wahrheitsfähigkeit dessen, mit dem man – ob aus Zufall oder nicht – ins Streiten geraten ist. Es bekriegt sich nicht aufs Messer, wer das rechte Wort hat: "Ich hasse, was du sagst, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass du es sagen darfst."

Konsumenten der ORF-Sendung Im Zentrum wurden am vergangenen Sonntag Zeugen einer wahrhaft kakofonischen Darbietung. An der Frage, inwiefern die kolportierten Praktiken des Rammstein-Sängers eine Ächtung durch das Publikum verdienen, ging jede Verständigung zuschanden. Und es sind ausgerechnet Kulturangelegenheiten, die auf die Diskutierenden enthemmend wirken.

Saure Früchte

Eine Podcasterin und eine stellvertretende Klubobfrau (Die Grünen, Anm.) wollten ihren Gesprächspartnern schon deshalb kein Mandat einräumen, weil deren Redebeiträge für sie vergiftet sind. Sauer schmecken die Früchte einer überkommenen Gesellschaftsordnung. Diese, die patriarchale genannt, hat weibliches Dafürhalten denunziert. Weibliche Sprechakte wurden ewige Zeiten lang niedergebügelt, ihre Beiträge für ungleichwertig erachtet. Die nachträgliche Rechtfertigung einer solchen diskursiven Verweigerung – sie trug zur Klärung der Rammstein-Debatte wenig bis gar nichts bei – lieferte der anwesende Videokünstler Rudi Dolezal. Es blieb diesem Hagiografen Falcos vorbehalten, auf die bizarre Idee zu verfallen, die anwesenden Diskutantinnen mit "Darling" anzusprechen.

Eine solche Form der Herablassung gegenüber Frauen bildete den Tiefpunkt eines Diskurses, der nicht nur der Tonlage nach vor die Hunde geht. Diskursives Plänkeln bildet häufig das Symptom der Krise, die es zu verhandeln und mit Vernunftmitteln zu kurieren meint. Dass ausgerechnet in Kulturfragen die Hutschnüre reißen, ist jedoch nichts Ungewöhnliches. Die erhebende Form der dialogischen Abklärung schöpft ihre ganze Autorität aus dem platonischen Dialog.

Der Philosoph Platon (428 bis 348 v. Chr.) legte seine ganze Autorität auf die Beantwortung der Frage, worin sich eine bloße Meinung von fundiertem Wissen unterscheide. In den sokratischen Gesprächen legt der Fragende das ganze Gewicht seiner Bemühungen auf die Selbstwiderlegung seines Gegenübers. Dieses soll sich, angeleitet vom Fragesteller, in Widersprüche verstricken, um anschließend desto sicherer den Boden der Wahrheit zu betreten. Seit der Antike bildet der Dialog, indem er auf der Symmetrie partnerschaftlichen Austauschs gründet, die Urform jedes ästhetischen Diskurses. Die Aufklärung – von Diderot bis Wieland – steckt voller Belege für eine diskursive "Arbeit am Wissen". Diese soll gemeinschaftlicher, das heißt: dialogischer Betrachtung standhalten.

Doch hat sich seit Anbruch der Moderne ein furchtbarer Verdacht geregt. Nur von gleich zu gleich wäre gut miteinander zu reden. Allein: Die Verhältnisse, sie sind nicht so.

Strukturelle Übermacht

Die strukturelle Übermacht schlimmer Zwänge hat gerade aus den kulturell Hellhörigen die lautesten Empörer gemacht. Man schreit so durchdringend, weil man von denen, die es angeht, womöglich sonst nicht mehr gehört wird.

Noch in den Mobilisierungskampagnen der Social Media hallt ein Rest dieses Aufruhrs in den empfänglichen Ohren weiter: ein Gebrüll aus Verzweiflung. Die Verständigungsverhältnisse befinden sich derweil im Krisenmodus. Dabei gäbe es so viel Klärungsbedarf wie noch nie. Doch wichtiger als ein Wort der Erwiderung ist heutzutage ohnehin ein "Like". Darling, ich bin auf Instagram! (Ronald Pohl, 19.6.2023)