Vor mehr als sechs Jahrzehnten schrieb der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti in seinem Buch Masse und Macht über die "Hetzmasse", die aufs Töten aus sei und "weiß, wen sie töten will". An diesem Mord will jeder teilhaben, weil niemand mit Sanktionen zu rechnen habe. Ein wichtiger Grund für das schnelle Anwachsen der "Hetzmasse" ist die Gefahrlosigkeit des Unternehmens. Der Sündenbock muss folgenlos erlegbar sein. Es gibt frappierende Parallelen zu den maßlosen Angriffen und Vorverurteilungen, mit deren Hilfe die Gegner der SPÖ auf den politischen Mord Andreas Bablers, des so überraschend zum SPÖ-Vorsitzenden gewählten Traiskirchner Bürgermeisters, hinarbeiten.

Könnte noch für einige Überraschungen in der Bundespolitik sorgen: SPÖ-Chef Andreas Babler.
APA/GEORG HOCHMUTH

Trotz seiner früheren wirren Aussagen zur Europäischen Union und eines kaum finanzierbaren linken Nostalgieprogramms ist es absurd, einen umgänglichen und glaubwürdigen Lokalpolitiker aus einer niederösterreichischen Kleinstadt (siehe "Zu Besuch in Bablers Paradies") nach einigen Tagen auf der bundespolitischen Bühne zu einer akuten Bedrohung des Landes ("Nordkorea!") hochzustilisieren. Oder ihn wegen seiner politischen Leidenschaft und emotionalen Ausstrahlung mit Donald Trump, Silvio Berlusconi und Herbert Kickl zu vergleichen. Nichts wäre angesichts der bereits von manchen Leitartiklern stillschweigend akzeptierten oder bewusst geförderten FPÖ-ÖVP-Regierung nach den nächsten Nationalratswahlen für die Zukunft der Zweiten Republik gefährlicher als eine Spaltung der SPÖ durch fortgesetzte innerparteiliche Intrigen oder durch das Auftauchen linkspopulistischer Randgruppen.

Ein Land, wo gegen den Bundeskanzler, Vizekanzler, Finanzminister und Verteidigungsminister der türkis-blauen Regierung (2017–2019) bei Unschuldsvermutung wegen Korruptionsverdachts Untersuchungen laufen und die Ex-Außenministerin für das Putin-Regime als Propagandistin wirkt, wo im Hintergrund weiterhin Putin-freundliche Unternehmer und Ex-Politiker (auch in der Energiepolitik) die Weichen stellen wollen, wo der freiheitliche Parteichef die liberale Demokratie mithilfe xenophober und rassistischer Burschenschafter in eine fremdenfeindliche Festung umbauen möchte, hat viel grundlegendere Probleme als die linke Rhetorik des neuen SPÖ-Vorsitzenden.

Wer erinnert sich hierzulande daran, dass José Manuel Durão Barroso (2002–2004 Ministerpräsident Portugals, 2004–2014 Präsident der Europäischen Kommission) seine politische Karriere als der Leiter einer maoistischen Partei angefangen hatte, oder an die linkssozialistischen Wurzeln im Untergrund des sozialistischen spanischen Ministerpräsidenten Felipe González (1982–1996) oder des spanischen Generalsekretärs der Nato und anschließend des Generalrats der EU, Javier Solana?

Die Auswahl seiner wichtigsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Klubspitze und in der SPÖ-Zentrale deutet jedenfalls darauf hin, dass Bablers Leidenschaft bei der Rückbesinnung auf sozialdemokratische Werte realpolitische Überlegungen keinesfalls ausschließt. Auch sein Auftritt in der ORF-Pressestunde war ein Beweis dafür, dass Babler nach seinem unerwarteten Sieg am SPÖ-Parteitag noch für Überraschungen in der Bundespolitik sorgen könnte. (Paul Lendvai, 20.6.2023)