Wie gelingen Vorhaben auf politischer und sozialer Ebene? Durch große Ankündigungen, durchschlagende Maßnahmen und unwidersprochene Entscheidungen von oben herab? Oder vielmehr durch kleine Schritte, konsequent aneinandergereiht, unter sorgsamer Einbindung möglichst aller Interessen?

Gradual plädiert für
"Gradual" plädiert für "schrittweisen Wandel" statt revolutionären Umbruch.

Um diese Grundfrage dreht sich ein neues Buch zweier Wissenschafter mit beruflichem Hintergrund in der US-Justiz, Greg Berman und Aubrey Fox. Und die Antwort ist für sie klar: Berman und Fox plädieren für einen schrittweisen, graduellen Wandel – für eine Kultur des Durchwurschtelns, wie man in Österreich sagen würde. Maßnahmen, die in diesem Geist gesetzt werden, zeigen langfristigen Erfolg, finden Berman und Fox. Denn Menschen tendieren stets dazu, ihre kurzfristigen Einflussmöglichkeiten zu überschätzen und ihre langfristigen zu unterschätzen. Insofern mögen es alle, die die Welt irgendwie verändern wollen, nicht radikal und schnell angehen, sondern: langsam, aber konsequent.

Unzählige kleine Vorstöße

Das Buch ist dann auch vor allem eine Aneinanderreihung politisch-sozialer Vorhaben, die laut Berman und Fox eben deshalb gelangen, weil man sie graduell anlegte (leider finden sie ausschließlich in den USA statt). Da wäre etwa New York, das sich in den vergangenen drei Jahrzehnten von einer Stadt mit immens hoher Kriminalitätsrate in eine sichere verwandelte: Dahinter steckte nicht etwa ein großer Plan, sondern unzählige kleine Vorstöße und Projekte, von städtischen Politikern, der Polizei, sozialen Einrichtungen, Nachbarschaftsinitiativen.

Oder etwa der sogenannte New Deal des US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt in den 1930er-Jahren. Angelegt auf Jahrzehnte, durchsetzt mit zahlreichen Kompromissen und Abstrichen, verpasste er den USA dennoch in Ansätzen einen Sozialstaat – und existiert in seinen Grundzügen bis heute. Auch der New Deal fällt für Berman und Fox in die Kategorie: erfolgreich, weil graduell.

Und die Klimakrise?

Obwohl es sich um interessante Beispiele handelt, beschleichen einen während der Lektüre doch Zweifel. Nicht nur vermisst man eine vertiefte theoretische und vielleicht sogar philosophische Herangehensweise an das Thema Tempo versus Langsamkeit, die die Fallbeispiele gut ergänzen würde. Auch fragt man sich, ob die Bewertungen mitunter nicht etwas willkürlich ausfallen. Könnte man nicht beispielsweise den New Deal, der als epochale Wende in der US-Politik gilt, ebenso als radikale Maßnahmen deuten?

Im Buch unbeantwortet bleibt schließlich die vielleicht wichtigste Frage: Wie soll man nun vorgehen, wenn die Gegebenheiten schlicht keine andere Wahl als Tempo und Durchschlagskraft erfordern – so wie vor allem im Fall der Klimakrise? Fazit: "Gradual" überzeugt inhaltlich nicht. Dennoch, alleine wegen der spannenden Ausgangsfrage und der Fülle an Beispielen ist es lesenswert. (Joseph Gepp, 21.6.2023)