Oft steht vor Gericht noch immer im Fokus, wie sich das mutmaßliche Opfer verhalten hat. Eine Ausstellung im deutschen Flensburg thematisierte 2022 die
Oft steht vor Gericht noch immer im Fokus, wie sich das mutmaßliche Opfer verhalten hat. Eine Ausstellung im deutschen Flensburg thematisierte 2022 die "falsche Opferschuld".
Imago / Willi Schewski

Die Frage, was konsensualer Sex ist und was Vergewaltigung, ist ein zentraler Bestandteil der Debatten über Gewalt an Frauen. Was ist zwar moralisch zweifelhaft, aber nicht strafrechtlich relevant? Wo beginnt strafrechtlich Gewalt, und wie viel Gegenwehr oder fehlende Zustimmung braucht es, damit ein Gericht von Vergewaltigung spricht?

Was ist Vergewaltigung?

Innerhalb der EU gelten dazu unterschiedliche Regelungen. Die EU-Kommission hat am Weltfrauentag 2022 einen Vorschlag für die "Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt" vorgelegt, der seither im EU-Rat und EU-Parlament verhandelt wird. Teil dieses Gewaltschutzpakets war auch die Forderung nach einer gemeinsamen Definition von Vergewaltigung. Nach dem nun vorliegenden Gesetzesvorschlag der Kommission soll es eine Richtlinie geben, ab wann sexualisierte Gewalt als „Vergewaltigung" unter Strafe gestellt werden soll. Wenn Mitgliedstaaten diese Richtlinie nicht einhalten, müssten sie Strafzahlungen leisten. 

Diese gemeinsame Definition von Vergewaltigung sei "Kernstück des Gesetzesvorschlags", heißt es aus dem Büro von Evelyn Regner (SPÖ), Vizepräsidentin des Europäischen Parlament und ehemalige Vorsitzende des Ausschusses für Frauenrechte und Gleichstellung. Am 9. Juni hat der EU-Rat diesen Aspekt allerdings abgelehnt. 

Schwedens Justizminister Gunnar Strömmer – Schweden hat derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne – betont, dass dies nicht daran liege, dass die Schwere der Straftat infrage gestellt würde, wie "Politico" berichtet. Vielmehr gehe es um eine nicht passende Rechtsgrundlage. Für die Richtlinie wurde die Rechtsgrundlage zu "sexueller Ausbeutung und Menschenhandel" gewählt. Vergewaltigung habe mit "Menschenhandel" nichts zu tun – so wurde gegen die gemeinsame Definition von Vergewaltigung auf Basis dieser Rechtsgrundlage argumentiert. Helena Dalli, Kommissarin für Gleichstellung der Europäischen Union, hielt dem entgegen, dass diese Rechtsgrundlage auch für eine Richtlinie für sexualisierte Gewalt von Kindern herangezogen worden sei. 

Konsensprinzip

Auch Evelyn Regner kann dem Argument einer unpassenden Rechtsgrundlage nichts abgewinnen, vielmehr fehle der politische Wille. Vier Staaten (Belgien, Italien, Griechenland, Luxemburg) haben mittels einer Deklaration Einspruch erhoben: Eine gemeinsame Definition von Vergewaltigung gehöre in die Richtlinie. Wie ernst könne man ein "Gewaltschutzpaket nehmen, wenn es eine der häufigsten Formen von Gewalt, die der Vergewaltigung, schlichtweg nicht thematisieren" wolle, kritisiert Regner. Über die finale Position des EU-Parlaments wird Ende Juni abgestimmt. Frauenministerin Susanne Raab (ÖVP) würde im weiteren Gesetzwerdungsprozess eine Wiederaufnahme des Strafdelikts Vergewaltigung unterstützen, heißt es auf Nachfrage des STANDARD. Die Verhandlungen auf EU-Ebene führt das Justizministerium. 

Die Unterschiede in der Definition von Vergewaltigung zeigen sich vor allem in der Art der Gegenwehr und der Auffassung von Konsens bei sexuellen Handlungen. In Österreich musste bis vor wenigen Jahren Gewalt angedroht oder angewendet werden, damit man von einer Vergewaltigung als Straftat sprechen konnten. Nach einer Reform 2016 wurde "Nein heißt Nein" als Grenze festgelegt, demnach gilt nun: Ein sexualisierter Übergriff ist dann strafbar, wenn die Handlung gegen den erkennbaren Willen einer Person ausgeführt wird. 

Perspektivenwechsel

Die Kommission will noch einen Schritt weitergehen und das Prinzip „Nur Ja heißt Ja" verankern. Dieses Prinzip soll vom Fokus auf das Abwehrverhalten eines Opfers weggehen und sich auf den Konsens aller Beteiligten fokussieren. Demnach soll nicht mehr im Zentrum stehen, wie und ob jemand eine sexuelle Handlung ausreichend abgewehrt habe. Stattdessen müssten mutmaßliche Täter erklären, wie und ob eine Zustimmung zum Sex gegeben wurde – verbal oder nonverbal. Regner sieht darin einen Perspektivenwechsel. Statt die Verantwortung für sexuelle Übergriffe auf "Betroffene abzuwälzen", würden von mutmaßlichen Täter:innen Erklärungen verlangt.

Ob Vergewaltigung überhaupt als solche angezeigt wird, ist innerhalb Europas sehr unterschiedlich. Im Jahr 2020 registrierten die Behörden etwa in Schweden auf je 100.000 Einwohner:innen eine Quote von rund 86 Opfern einer Vergewaltigung. In der Schweiz waren es durchschnittlich 7,8 von 100.000 Einwohner:innen, die eine Vergewaltigung zur Anzeige brachten. Es handelt sich bei den Daten nur um Straftaten, die von der Polizei registriert wurden. Ob es in Schweden tatsächlich zehnmal häufiger zu Vergewaltigungen kommt als in in der Schweiz, lässt sich mit diesen Zahlen nicht belegen, da sie nur das kriminalstatistische Hellfeld abbilden. Denn das sogenannte Dunkelfeld bei Sexualdelikten ist hoch – in dieses Dunkelfeld fallen strafbare Handlungen, die nicht offiziell erfasst werden. 

Gesellschaftliche Akzeptanz

Studien zeigen, dass Sexualdelikte von Betroffenen selten zur Anzeige gebracht werden, unter anderem, weil in der überwiegenden Anzahl der dokumentierter Fälle sich Täter und Opfer kannten. "Je geringer die gesellschaftliche Akzeptanz sexualisierter Gewalt ist, desto eher steigt die Anzeigebereitschaft", heißt es in einer Erhebung der Zahlen angezeigter Vergewaltigungen. (beaha, 22.6.2023)