Die wuchernden 1990er-Jahre. Waren bei der ersten Berliner Loveparade 1989 gerade einmal 150 Raver, waren es zehn Jahre später hundertausende.
Die wuchernden 1990er-Jahre. Waren bei der ersten Berliner Loveparade 1989 gerade einmal 150 Raver, waren es zehn Jahre später hunderttausende.
imago images/Contrast/Behrend

Letzte Woche ist Teresa Taylor im Alter von 60 Jahren gestorben. Sie war einschlägig bekannt als Schlagzeugerin der texanischen Drogenfresser-Punkband Butthole Surfers, zum anderen galt sie als Mutter Teresa der Slacker. Eingebracht hatte ihr diese Titel ihr Auftritt in Richard Linklaters Film Slacker, in dem Taylor 1991 mit einem angeblichen Gebärmutterhalsabstrich von Madonna hausieren ging, den sie in einem trüben Gurkenglas aufbewahrte.

Slacker waren eines jener Phänomene der 1990er-Jahre, die der deutsche Popkulturautor Jens Balzer in seinem Buch No Limit: Die Neunziger – Das Jahrzehnt der Freiheit in Erinnerung ruft und einordnet. Als Slacker galten tendenziell antriebslose Figuren, die oft infantil anmutende Interessen mithilfe eines angemessenen Drogen- und Musikkonsums noch im Erwachsenenalter pflegten. Ein Kollateralschaden dieses planlosen Lebensentwurfs ist eine Art frühzeitige Schrulligkeit. Slacker verlieren sich zitatenreich in Details und bedienen sich des Zynismus, um mit der sie überfordernden Realität zurechtzukommen.

Teresa Taylor (mittig) in Richard Linklaters Film "Slacker" (1991).
Orion Pictures Corp.

No Limit: Die Neunziger ist das dritte Jahrzehnt, das sich Balzer in Buchform vorknöpft. Die Vorgänger hießen Das entfesselte Jahrzehnt über die 1970er und High Energy, ein Blick auf die 1980er-Jahre.

Die 1990er beginnen bei Balzer mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 und enden mit den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001. Eingebettet in und konnotiert mit gesellschaftspolitischen Umbrüchen betrachtet er die Popkultur jener Zeit. Dabei zeigt sich im Verlauf des Buches, dass die vermeintliche Freiheit nicht ohne neue Unfreiheit und bittere Pillen kam. Zwar verhalf der Fall des Eisernen Vorhangs der Demokratie zu einem scheinbar endgültigen Sieg. Heute ist klar, dass darum ständig neu zu verhandeln und zu kämpfen ist.

Grundgefühl einer Revolution

Balzer leitet aus einer Aufbruchszeit und neu entstandenen Spiel- und Schauplätzen in Osteuropa das Grundgefühl für eine Revolution wie Techno ab. Das ist nicht neu, doch wie bei seinen Vorgängern gelingt es ihm, geistvolle und originelle Zusammenhänge offenzulegen, die im Blick zurück, mit dem Abstand von über 20 Jahren, durchaus neue Erkenntnisse ergeben – selbst für Zeitzeugen.

Während einerseits eine vermeintlich egalisierende Technokultur zum großen Bummbumm in Trance verfällt, gehen im Nordwesten der USA ein paar hängeschultrige Misfits daran, den musikalischen Mainstream für immer zu verändern: Nirvana als Speerspitze des Grunge. Derlei trotz vieler begleitender Tragik letztlich euphorischen Zäsuren stellt er das schleichende Erstarken des Neonazitums in der Alten Welt gegenüber. Die Freude über die Wiedervereinigung kippte bald in einen neuen Verteilungskampf, mit dem Ideologien einherschritten, die nichts Gutes bedeuteten.

Die zerschossenen Jeans des Grunge sind Balzer genauso bedeutsam wie die boomende Tattookultur als Ausdruck eines radikalen Individualitätsverlangens, das am Ende, nach dem 50.000. Arschgeweih, doch nur eine neue Uniformität ergeben hat.

Boomte in den 1990ern: Das Tattoo, das sie Arschgeweih nannten.
Boomte in den 1990ern: das Tattoo, das sie Arschgeweih nannten.
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Daran anschließend kommt er zur Kultur der Selbstoptimierung unter den Messern der Schönheitschirurgie, die unter dem Eindruck von TV-Stars wie Pamela Anderson von Baywatch zu boomen begonnen hat: "Ich verdanke meinen gesamten Erfolg meinen Brüsten, ich bin ihnen eigentlich immer nur hinterhergetrottet", zitiert Balzer Anderson.

Dabei verbietet er sich ein Polemisieren, ohne deshalb trocken oder humorlos zu wirken – im Gegenteil. Die Reflexionen sind nüchtern, ihre aus der historischen Distanz entstandene Widersprüchlichkeit gebiert oft von selbst Ironie, die dem Lesevergnügen zuarbeitet. Balzer besitzt ein gutes Gespür für Details, die im Vergleich zu den großen Ereignissen des Jahrzehnts zwar nur Fußnoten sind, aber dennoch Bedeutung haben können: etwa wenn er anhand des dekorativen Aufschäumens der Milch auf dem Kaffee Erkenntnisse über das Mindset einer Generation gewinnt.

Das ergibt in Summe ein facettenreiches Bild ohne missionarischen Tonfall, ohne die Nostalgie des Zeitzeugen. Und ein Lesevergnügen, das nur davon ein wenig getrübt wird, dass das Buch kein Stichwort- oder Namensregister bietet, was bei der Themensuche hilfreich wäre. (Karl Fluch, 29.6.2023)