Wir verlassen die Erde / Als enttäuschte Herde / Wir verlassen die Erde / Auf dass sie schöner werde / Wir verlassen die Menschheit / Noch grad zur rechten Zeit / Wir verlassen die Staaten / Ohne Abzuwarten als gescheiterte Arten / Wir verlassen die Kugel / Als ein trauriges Rudel / Wir verlassen die Kugel / Wie begossene Pudel – Die Goldenen Zitronen

Lieber Clemens J. Setz, sehr geehrter Herr Stadtrat, meine sehr geehrten Damen und Herren,

diese Laudatio hier hat eine Obsession. Es dreht sich in ihr ständig etwas um kugelförmige Dinge und das beginnt schon mit dem ersten Textbeispiel, das ich habe, nämlich dem jüngsten Buch des Autors. Viele von Ihnen werden wissen, worum es in dem Roman Monde vor der Landung geht. Der Text führt uns in eine erste Kugel, die zunächst einmal der Kopf eines gewissen Peter Bender ist. Diese Person ist historisch verbürgt, und es ist mit ihr überhaupt das erste Mal, dass Clemens J. Setz eine historisch verbürgte Person zum Helden eines seiner großen Prosabücher gemacht hat. Als typisch für Setz könnte man erachten, dass er uns aber auch damit in ein eher entlegenes Gebiet führt. Peter Bender war ja bislang weitgehend unbekannt. Nur wenige haben seinen Namen zuvor gehört, und bis heute existiert zu ihm nicht einmal ein Wikipedia-Eintrag.

Hier schnell die Eckdaten: Peter Bender wurde am 30. Mai 1893 in einem kleinen Ort in Rhein-hessen geboren. Nach der Matura in Worms war er im Ersten Weltkrieg Flieger. Er heiratete Charlotte Asch, die aus einer jüdischen Apothekerfamilie stammte. Im November 1918 wurde Bender Vorsitzender des Wormser Arbeiter- und Soldatenrats. Ein Sohn und eine Tochter kamen zur Welt. Bender gründete eine sektenartige Religionsgemeinschaft, schrieb für lokale Zeitungen und erstellte Horoskope. 1927 erschien von ihm ein autobiografischer Roman mit dem Titel Karl Tormann. Ein rheinischer Mensch unserer Zeit. Mitte der 1930er Jahre übersiedelte die Familie nach Frankfurt. Wegen Kritik am Nationalsozialismus wurde Bender im März 1943 verhaftet, er starb am 4. Februar 1944 im KZ Mauthausen. Seine Frau Charlotte wurde im März 1944 ins KZ Auschwitz deportiert und nach dem Krieg für tot erklärt. Die beiden Kinder überlebten.

Noch heute gibt es Nachkommen der Familie in Worms, die jedoch, was diesen ihren Vorfahren betrifft, nicht sonderlich auskunftsfreudig sind. Wie mir ein Freund erzählt hat, der selbst aus Worms kommt, kennt man in der Stadt aber bis heute seine Geschichte, nämlich den Teil seiner Biographie, der auch Clemens J. Setz animiert hat, sich mit dem Mann zu beschäftigen: Peter Bender war nämlich ein Anhänger der sogenannten Hohlwelttheorie, womit wir jetzt auch schon bei der zweiten Kugel wären.

Hohlwelttheorie

Die Hohlwelttheorie geht davon aus, dass die Menschheit nicht auf der äußeren Oberfläche einer Kugel lebt, sondern sich im Inneren einer noch viel größeren Kugel befindet. Das gesamte Universum ist hier gleichsam nach innen gestülpt und von der Erde als einer äußeren Hülle umgeben. Phänomene wie der Himmel, der Mond und die Gestirne füllen die hohle Weltkugel im Inneren auf, die Sonne befindet sich exakt im Mittelpunkt.

Alles, was sich in der Hohlwelt entwickelt, was in ihr gedeiht und wächst, kommt aus ihrem Inneren. Da diese Welt in der Erde nach außen hin eine feste Grenze hat, ist das auch gar nicht anders möglich. Die Monde, die sich im Titel des Buches finden, haben dabei eine ganz besondere Funktion. Clemens J. Setz erklärt die Sache aus Peter Benders Sicht so:

"Jedes Wesen auf unserer Hohlerde, egal ob Maus oder Steinpilz oder Schirmakazie, war einst aus einem ähnlichen Mond gekommen. Monde bildeten sich in der Mitte des Universums, wie Blasen. Sie lösten sich und schwebten durch den Raum und landeten bei uns und brachen auf, gaben ihre kostbare Fracht frei. O Gott, wie hatte er dieses Liebkosen ihres Inneren genannt? Den Kosmos melken."

Setz verfolgt die Lebensgeschichte von Peter Bender in allen erdenklichen Details. Er hat die verfügbaren Quellen studiert und in sein Buch viele Realien eingearbeitet. Wie ein Mensch etwas glauben kann, das so ganz gegen die erfahrbare Evidenz steht. Dieser Gedanke sei, so hat der Autor erklärt, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund heutiger Verschwörungstheorien, für ihn eine der zentralen Leitlinien beim Schreiben dieses Buches gewesen.

Auffällig an den Büchern von Clemens J. Setz ist ja, dass der Autor mit jedem seiner Werke unterschiedliche Wege beschreitet. Der junge Peter Handke hat gesagt, dass ihn, sobald er einmal eine literarische Methode erprobt hat, diese Art zu schreiben dann nicht weiter interessiert. Jedes neue Buch braucht, so Handke, eine neue literarische Methode. Eine neue Art und Weise auch, mit dem jeweiligen Stoff umzugehen.

Literarische Innovation

Ohne es explizit formuliert zu haben, verfolgt auch Clemens J. Setz ein Programm der literarischen Innovation. In seinen Erzählungen, zusammengefasst in den beiden Bänden Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes und Der Trost runder Dinge variiert er Spektakel von Inhalt und Form. Einmal stellt er das eine in den Vordergrund und nimmt das andere zurück, dann wieder macht er es genau umgekehrt. Manchmal wird eine Art der Beiläufigkeit wie bei der kanadischen Erzählerin Alice Munro angestrebt, dann wieder greift Setz zu plakativen Tönen und eine Art von Weirdness macht sich breit, die mittlerweile auch schon für ein Markenzeichen des Autors gehalten wird.

Preisesammler Clemens J. Setz erhält mit dem Franz-Nabl-Preis nun auch eine Würdigung aus seiner Heimatstadt Graz.
Preisesammler Clemens J. Setz erhält mit dem Franz-Nabl-Preis nun auch eine Würdigung aus seiner Heimatstadt Graz.
Heribert Corn

In dem Band Bot. Gespräch mit dem Autor legt Setz ein computer- bzw. datentechnisch gesteuertes Frage- und Antwort-Spiel vor, in dem Band Die Bienen und das Unsichtbare erprobt er Spielarten des literarischen Essays. In seinen ersten beiden Romanen Söhne und Planeten und Die Frequenzen hat der Autor allein schon durch die großen Textumfänge und die Verwendung außergewöhnlicher literarischer Formen von sich reden gemacht.

Der nachfolgende Roman Indigo nimmt die Form einer heterogenen Materialsammlung an und entwirft mit einem Stilmittel, das bereits die deutsche Romantik kannte, über die materiellen Brüche hinweg eine alles bündelnde Herausgeberfiktion. Im nächsten großen Prosawerk Die Stunde zwischen Frau und Gitarre begibt sich Setz von der erzählerischen Technik her auf die Spuren von James Joyce. Nicht gerade ein Tag und nicht gerade Dublin wird hier ausgebreitet, dafür aber etwas, das uns allen hier an diesem Ort viel näher liegt, nämlich mehrere Wochen im Leben der weiblichen Hauptfigur in Graz.

Setz und Graz

Überhaupt spielt Graz als ein genau identifizierbarer Hintergrund im bisherigen Werk von Clemens J. Setz die größte Rolle. Man kann diese Stadt in seinen Büchern noch einmal anders und ganz neu erfahren. Gerade auch dann, wenn man sie aus eigener Anschauung schon sehr gut kennt.

Hohlwelten, Blasen, Sphären, der tröstliche Charakter von runden Dingen, das Eindringen in Dinge bis hin zu der Vorstellung, dass man in ihnen wohnen kann, all dies spielt im Gesamtwerk des Autors eine entscheidende Rolle. Peter Bender ist, indem er im Inneren einer Kugel zu wohnen glaubt, für Clemens J. Setz also gar keine atypische Figur. Der Mann und seine Hohlwelttheorie passen eigentlich recht gut in das textliche Gesamt-Universum des Autors.

Auch Natalie Reinegger, die Hauptperson aus Die Stunde zwischen Frau und Gitarre lebt in einer Blase. Hier ist es allerdings eine Blase aus technischen Medien, die die junge Frau als typische Vertreterin ihrer Generation umgibt. Durch Manipulationen an diesen Medien erweitert Natalie die Räume, die die modernen Massenmedien ihr bieten. Alles an dieser Figur mitsamt ihrem ganzen Innenleben ist nach außen gestülpt. Natalie hat keine Geheimnisse. Nicht vor dem Autor, nicht vor der Leserschaft und auch nicht vor sich selbst. Alles, was wir von ihr wissen, ist Teil der Medienkugel, in deren Mitte sie sich befindet.

Viele Figuren von Clemens J. Setz sind in kugelförmige Vorstellungswelten und in Hohlräumen neuer und neuester Medien verfangen. Diesen Blasen haftet manchmal vielleicht sogar so etwas wie ein Wunsch nach einer Rückkehr zur Ursprünglichkeit der Dinge an. Es gibt bei Clemens J. Setz tatsächlich Figuren, die genau das wollen: nämlich wieder in die unmittelbare Materialität der Dinge hineingeraten. In seinem Buch Bot sagt der Autor von sich selbst: "Ich möchte in einem Tannenzapfen begraben werden."

Natalie Reinegger entwickelt aus der "Gewissheit", sich "auf der Oberfläche eines riesigen Balles" zu befinden, "im Schutz einer hauchdünnen Schicht aus atembarer Atmosphäre", das Gefühl für ein Leben in den Dingen. Auslöser dafür ist ein Wort, nämlich das Wort "stockdunkel". Dieses Wort bringt Natalie auf einen Gedanken, den ich wörtlich zitieren möchte: "Aber natürlich war es im Inneren eines Spazierstockes tatsächlich sehr dunkel. Im Inneren einer Stecknadel noch dunkler. Und im Inneren eines Haars verlor man bestimmt den Verstand vor lauter Finsternis."

Runde Dinge

Auffällig oft sind es runde Dinge, die uns bei Clemens J. Setz begegnen. In der Erzählung Character IV lebt ein Mensch in einer Schneekugel fern der Erde. Ihre gläserne Wand hält das Weltall draußen. Natalie Reinegger trifft schon im ersten Satz des großen Graz-Buches auf eine mächtige Kugel in der Luft, nämlich auf einen Heißluftballon. Später bläst sie in einer regressiven Szene in der Badewanne ihres Vaters Kondome zu Bojen auf. Dann meditiert sie sich in eine Münze hinein und erfreut sich schließlich noch an der Zeichnung eines weißen Kugeltieres. Diese Zeichnung hat ihr ihr Ex-Freund, der Schriftsteller Markus C. Haase, geschenkt. Auch der Titel, den Clemens J. Setz seinem bislang letzten Erzählsammelband gegeben hat, macht klar: "Der Trost runder Dinge" bildet bei diesem Autor ein ziemlich weitreichendes Phänomen.

Warum aber sind es ausgerechnet die runden Dinge, die dem Menschen Trost spenden? Trägt die Menschheit die Sucht nach der Kugel etwa in ihrem genetischen Programm? Bei Clemens J. Setz wird der Mensch diese Sehnsucht jedenfalls nicht mehr los. In der Erzählung Zauberer heißt es: "Die meisten Dinge in der Stadt wirkten im Winter um vieles weicher und runder, und der allgemeine Trost runder Dinge ist etwas, für das die Dauer eines normalen Menschlebens glücklicherweise nicht ausreicht, um dagegen immun zu werden."

In seinem Buch Poetik des Raumes hat der französische Phänomenologe Gaston Bachelard ausgeführt, dass die Kugel wie kein anderes Ding die Einheit des Gegenstandes verkörpert. Aus diesem Grund konnte ihre Form dann auch zu einem herausragenden Bild für das Dasein des Menschen werden. Denn so stellt sich der Mensch das Leben in seiner Ganzheit gerne vor: als eine runde Sache, die am Ende zu einem glatten Abschluss gelangt.

Kommt der Trost, den runde Gegenstände bei Clemens J. Setz spenden, von der Geschlossenheit der Form? Ja, sicher! Aber es taucht in der Metapher der Kugel hier auch noch etwas anders auf. Denn egal, ob wir uns auf oder in der Kugel wähnen. Letztlich steckt in der Art und Weise, in der Clemens J. Setz Materien der Gegenwart literarisch formt, immer auch ein politischer Akt. So werden wir von dieser Literatur fortwährend zu einer gemeinsamen Verantwortung aufgerufen. Und nicht zuletzt gilt diese Verantwortung jener ins Weltall geworfenen Kugel, die wir alle gemeinsam bewohnen. (Klaus Kastberger, 22.6.2023)