Atine
Atine – ein dezentes Frauenpowerquintett ist heuer beim Festival Glatt & Verkehrt zu erleben.
Jeff Le Cardiet

Der Westen war ein halbes Jahrtausend lang die verheißungsvollste Himmelsrichtung: Seit Kolumbus brach die Alte Welt in diese Richtung auf, retour kamen irgendwann Rock und Pop. Der Süden? Der ewige, unweite Sehnsuchtsort, Arkadien. Im Norden die liberalen, aufgeräumten Skandinavier. Der Osten hingegen ist auch 34 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs weitgehend Terra incognita. Bratislava: eh, Budapest: auch. Aber dann?

Glatt & Verkehrt zieht es in diesem Sommer ostwärts. Von Krems, von der Wachau pilgert man auf vielfältigen, verführerischen Tonspuren über die Slowakei nach Bulgarien und in die Ukraine, dann weiter in die Türkei und den Iran. Diese geografische Orientierung hat Festivalchef Albert Hosp mit einem inhaltlichen Fokus verknüpft, dem politischen Lied. Wenn Menschen ihre Stimme erheben, dann haben sie etwas zu erzählen. Geschichten aus ihren Ländern, die von Glück und von Leid berichten, von Befreiung, aber auch von Unterdrückung.

Eine richtige Reise beginnt natürlich unter freiem Himmel. Im Hof vom Schloss zu Spitz kann man mit Martin Geišberg & Balkansambel in Richtung Slowakei aufbrechen. Volksmusik, Jazz und Balkan Brass mit eingebautem Turbo gehen hier eine unterhaltsame Verbindung ein. (14. 7.) Tags darauf geht es an selber Stelle weiter nach Rumänien, in die Bukarester Vorstadt. Zu den feingliedrigen Klängen von Zymbal, Geige und Akkordeon erzählt Corina Sîrghi mit einer weichen Singstimme, die sofort in ihren Bann zieht, Liebesgeschichten und Weiterführendes. (15. 7.)

Quirliger Stoizismus

Geheiratet wird dann zwei Wochen später in Bulgarien. Dieses Land materialisiert sich in Tonform bei den Winzern Krems, beim Konzert von Ivo Papasov & His Wedding Band. Mit seinem Ensemble kreiert der bulgarische Doyen der Klarinette eine Mischung aus Jazz, Funk und Roma-Musik, die mit quirligem Stoizismus (sic!) über die Rampe gebracht wird. (27. 7.) Wenn in diesen Tagen hierzulande eine ukrainische Formation auftritt, dann bekommt jeder gesungene Satz einen politischen Hintergrund. Die Männer vom Ensemble Kurbasy dürfen aus bekannten Gründen nicht aus der Ukraine ausreisen, Nataliia Rybka-Parkhomenko und Mariia Oneshchak müssen das traditionelle Liedgut ihres Landes zu zweit interpretieren. Verschränkt wird dieses Österreich-Debüt mit einem Auftritt von Derya Türkan und Sokratis Sinopoulos. Mit schlichten und doch sinnlichen Sounds, gestrichen oder gezupft, entführen die beiden Lautengötter in überirdische Sphären. (28. 7.)

Am gleichen Abend – bei den Winzern Krems in der Sandgrube 13 werden an den fünf zentralen Festivaltagen immer zwei Sets zu 80 Minuten gespielt, dazwischen gibt es eine Stunde Pause – geht es dann noch weiter in Richtung Jemen. Die Musik des Heimatlandes seiner Vorfahren verbinden Eyal El Wahab und sein Ensemble El Khat mit zeitgenössischen Klängen. Das ergibt in Summe einen retrofuturistischen Sound, der hoffentlich so stimulierend wirkt wie das in Ostafrika verbreitete Kauen der Blätter des Kathstrauchs. (28. 7.) Aus Teheran stammt Aida Nosrat, wo sie neben klassisch-europäischem Musizieren auch persischen Gesang gelernt hat.

Außerhalb des Irans darf die 2016 nach Frankreich emigrierte Musikerin Letzteren auch auf offener Bühne vortragen: Sie tut es zusammen mit ihrem dezenten Frauenpowerquintett Atine. (30. 7.) Gute Reise!

Bia Ferreira
Bia Ferreira unterhält mit einer Vielfalt von Soul, Funk, R&B und Reggae.
Glatt & Verkehrt

Debüts, Stilvielfalt aus Brasilien und A Cappella

Darf sich ein Festivalchef auch einmal etwas wünschen? Aber ja. Mit dem Auftritt von Nils Landgren & Johan Norberg hat Ö1-Fixstern Albert Hosp heuer ein Duo nach Krems geladen, dessen Playlist fast schon in Richtung Formatradio geht (allerdings mehr in Richtung Radio Wien als Ö3). Der renommierte Jazz-Posaunist (und Sänger) und der Gitarrist interpretieren schon seit Jahrzehnten zu zweit in gemächlicher Art und Weise Klassiker der Popmusik: Eleanor Rigby, Moonshadow, Broken Wings oder Get Here. Einfach wunderschön. (30. 7.)

Mit A Filetta kommt ein ungewöhnlicher internationaler Act erstmals nach Österreich: Die korsische A-cappella-Band musiziert mit dem ägyptischen Sänger Abdullah Miniawy und dem Saxofonisten Peter Corser in der Sandgrube 13. Hätte auch gut in die Kremser Minoritenkirche gepasst. (29. 7.)

Kraftvolle Stimme

Ein spannendes Österreich-Debüt ist auch das von Bia Ferreira. Die brasilianische Sängerin fesselt mit ihrer kraftvollen Stimme und unterhält mit einer großen stilistischen Vielfalt von Soul, Funk, R&B und Reggae. Eine politische Botschaft hat die Gründermutter der "lesbiterianischen Kirche" noch dazu, diese ist bei Ex-Präsident Bolsonaro leider auf taube Ohren gestoßen.

Wäre Herbert Kickl Innenminister von Brasilien, wäre sie für ihn wohl eine Hauptzielscheibe", sagt Hosp. Hier in Österreich darf Bia Ferreira aktuell unbehelligt ihre Stimme erheben. (26. 7.) (sten)

Lylit
Die heimische Soul-Pop-Sängerin Lylit bei Glatt & Verkehrt.
Helena Wimmer

Uraufführungen, Tafelvolksmusik und Musikwerkstatt

Glatt & Verkehrt ist auch ein Impulsgeber und Zusammenführer der alternativen Musikszene, mit Albert Hosp als Pontifex maximus. Für diesen Sommer hat der Festivalchef etwa die österreichische Pop&Soul-Sängerin Lylit, die finnisch-schwedische Liedermacherin Désirée Saarela und die britische Akkordeonistin Hannah James eingeladen, zusammen Musik zu machen. Ist Hosp sicher, dass das funktioniert? "Nein. Aber man muss sich etwas trauen." (27. 7.)

Weitere vom Festival intendierte Uraufführungen: Das Dreigestirn Zur Wachauerin, spezialisiert auf gesprochene Dialektpoesie, umrahmt von tröpfelnden Gitarrentönen, setzt sich mit weiteren musikalischen Fachkräften mit Hank Williams, dem James Dean der Countrymusik, auseinander. (26. 7.) Und Schlagzeuglegende Uli Soyka trommelt und schlägt mit Judith Schwarz und Andi Menrath, Klaus Dickbauer und Tobias Vedovelli blasen und zupfen dazu. (29. 7.)

Aber auch den ganz Jungen wird bei Glatt & Verkehrt eine Bühne geboten, und zwar die vom Wirtshaus Salzstadl in Krems. Nur wenige der Volksmusizierenden der Zoigal, der Mostschankmusi und des Ensemble Pfiffikus sind schon volljährig. Vor und nach dem Mittagessen spielen die aktiven und ehemaligen Musikschüler Tafelmusik. (27.–29. 7.) Und im Kraftort Stift Göttweig, hoch über der Donau, kann man sich im Rahmen der Werkstatt-Reprisen anhören, was die 70 Lernwilligen von ihren sieben lehrenden Musikprofis denn bei der einwöchigen Musikwerkstatt gelernt haben. (21. 7.) (Stefan Ender, 23.6.2023)