Russlands Präsident Wladimir Putin auf zwei Bildschirmen
Wladimir Putin bei seiner Fernsehansprache am Samstag
AP / Pavel Bednyakov

Jewgeni Prigoschin hat den Bogen endgültig überspannt. Diesmal hat "Putins Koch", um im Bild zu bleiben, richtig aufgetischt. Er verkündete, das Verteidigungsministerium, sein Lieblingsfeind, versuche, Putin und die Öffentlichkeit über die Kriegsgründe zu täuschen. Dass von der Ukraine eine Aggression ausgehe und diese gemeinsam mit der Nato Russland angreifen solle, sei eine Lügengeschichte. "Die Spezialoperation wurde aus anderen Gründen begonnen", sagte Prigoschin. "Der Krieg war notwendig, damit Schoigu Marschall werden und eine zweite Heldenmedaille bekommen kann.“ Prigoschins Fazit: "Der Krieg war nicht notwendig, um die Ukraine zu demilitarisieren oder denazifizieren."

Darauf musste Russlands Präsident Wladimir Putin reagieren. Und das tat er. Sichtlich verärgert, hart und per Fernsehansprache. Von Verrat sprach er und einem "Dolchstoß in den Rücken". Wer an der Meuterei teilgenommen habe, werde bestraft, jeder, der die Waffen gegen die Armee erhoben habe, sei ein Verräter.

Schon seit Monaten stichelt und stänkert der Wagner-Chef gegen Russlands Armeeführung. Und dies in einer Wortwahl, die andere in Russland schon für Jahrzehnte ins Straflager gebracht hätten. Ausgerechnet am 9. Mai, am Tag des Sieges über die Nazis im Zweiten Weltkrieg, fabulierte von einem "Großvater", der ein "komplettes Arschloch" sei, der glaubt, alles sei in Ordnung, und dennoch derzeit Russland an die Wand fährt. Gemeint gewesen sei, so der Wagner-Chef später, etwa der geschasste stellvertretende Verteidigungsminister oder eben Waleri Gerassimow, der Generalstabschef von Verteidigungsminister Shoigu.

Rote Linie längst überschritten

Die rote Linie aber überschritt Jewgeni Prigoschin eigentlich schon, als er verkündete, seine Wagner-Soldaten würden sich nicht der Befehlsgewalt des Verteidigungsministeriums unterstellen. So etwas geht nirgendwo, auch nicht in Russland. Eine bewaffnete Gruppierung, die einfach ihr eigenes Süppchen kocht, ohne sich der staatlichen Kontrolle zu fügen? Wladimir Putin ließ es durchgehen – wohl auch weil die Wagner-Truppe Erfolgsgarant in der Ukraine ist.

Nun aber, da Prigoschins Truppe offensichtlich im eigenen Land einmarschiert ist, geht es dem Kremlchef um die „Neutralisierung" der Drahtzieher. "Wir werden siegen und stärker werden", sagte er im Fernsehen.

Wladimir Putin muss so handeln – und bringt sich damit in eine Zwickmühle. Wird Wagner aufgeben, werden sich Prigoschins Kämpfer unter die Befehlsgewalt von Shoigus regulären Truppen begeben? Auch dort gibt es Vertragssoldaten, eine kleine Gehaltserhöhung für die Wagner-Söldner wäre vielleicht drin. Eher unwahrscheinlich. Aber was dann? Kann sich Prigoschin gegen seinen Widersacher durchsetzen? Müssen Verteidigungsminister Shoigu und sein Generalstabschef Gerassimow weichen? Für Putin wäre das eine schwierige, nicht sehr populäre Entscheidung, nicht einmal ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl.

Oder droht in Russland ein Bürgerkrieg? Das wäre die schrecklichste Alternative. Das Gespenst des Chaos der 1990er-Jahre steht im Raum. Machtkämpfe, politische Morde. Diesmal allerdings mit diversen Privatarmeen. Und Atomwaffen. Dann würde Putin womöglich scheitern. Und der Westen würde sich Russlands Präsidenten wohl händeringend zurückwünschen. (Jo Angerer, 24.6.2023)