24 Stunden Chaos in Russland sind vorbei, der Vormarsch von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin und seiner Söldner in Richtung Moskau ist gestoppt. Aufatmen in der russischen Hauptstadt, aber viele Menschen in Russland zweifeln an ihrem Präsidenten Putin und an Verteidigungsministers Shoigu.

Prigoschin konnte weitgehend unbehelligt bis kurz vor Moskau marschieren. Nicht getarnt, in offener Marschkolonne. Wo war eigentlich die reguläre Armee, die das Land verteidigen soll? Vermittelt hatte Prigoschins Abzug der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko. Auch wenn dieser Putins Vasall ist: Braucht Russland wirklich einen ausländischen Vermittler um seine Angelegenheiten zu regeln? Das Wichtigste aber: Putin versprach noch am Samstag im Staatsfernsehen Härte, strenge Bestrafung der Putschisten. Ein paar Stunden später gibt es Straffreiheit für alle, von Prigoschin bis zum einfachen Söldner.

Schwacher Putin, Sieger Prigoschin

Russlands Präsident Wladimir Putin erscheint schwach, der eigentliche Sieger heißt Jewgeni Prigoschin. Auch diesmal durfte er den Bogen überspannen, durfte verkünden, das Verteidigungsministerium, sein Lieblingsfeind, habe versucht, Putin und die Öffentlichkeit über die Kriegsgründe zu täuschen. Dass von der Ukraine eine Aggression ausgehe und diese gemeinsam mit der Nato Russland angreifen solle, sei eine Lügengeschichte. "Die Spezialoperation wurde aus anderen Gründen begonnen", sagte Prigoschin. "Der Krieg war notwendig, damit Schoigu Marschall werden und eine zweite Heldenmedaille bekommen kann.“ Prigoschins Fazit: "Der Krieg war nicht notwendig, um die Ukraine zu demilitarisieren oder denazifizieren." Und er durfte sogar mit seiner Truppe gen Moskau marschieren. Ungestraft.

Wladimir Putin bei seiner TV-Ansprache
Wladimir Putin bei seiner TV-Ansprache
AP

Schon seit Monaten stichelt und stänkert der Wagner-Chef gegen Russlands Armeeführung. Und dies in einer Wortwahl, die andere in Russland schon für Jahrzehnte ins Straflager gebracht hätten. Die rote Linie aber überschritt Jewgeni Prigoschin eigentlich schon als er verkündete, seine Wagner-Soldaten würden sich nicht der Befehlsgewalt des Verteidigungsministeriums unterstellen. So etwas geht nirgendwo, auch nicht in Russland. Eine bewaffnete Gruppierung, die einfach ihr eigenes Süppchen kocht, ohne sich der staatlichen Kontrolle zu fügen? Wladimir Putin ließ es durchgehen – wohl auch weil die Wagner-Truppe Erfolgsgarant in der Ukraine war.

Schoigu-Entlassung möglich

Was geschieht nun? Unwahrscheinlich, dass sich die Wagner-Kämpfer der regulären Armee unterstellen werden. Eher werden sie sich in Belarus unter ihrem Chef Prigoschin versammeln. Zu welchem Zweck auch immer.

Nicht unwahrscheinlich ist, dass Putin seinen Verteidigungsminister Shoigu und dessen Generalstabschef Gerassimow entlässt. Hardliner könnten an die Macht kommen. Für die Ukraine wäre das keine gute Perspektive. Und für Putin eine nicht sehr populäre Entscheidung, nicht einmal ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl. Die Wahl wird er wohl gewinnen, einen wirklichen Nachfolger gibt es nicht. Aber was kommt dann? Scheitert Putin, droht in Russland ein Bürgerkrieg. Das Gespenst des Chaos der 90er-Jahre steht im Raum. Machtkämpfe, politische Morde. Diesmal allerdings mit diversen Privatarmeen. Dann würde sich der Westen Putin wohl händeringend zurückwünschen. Auch damit die Atomwaffen unter Kontrolle blieben. (Jo Angerer, 25.6.2023)