Delna Antia-Tatic

Klar, den Altherrenwitzen weint keiner nach. Aber der Kollegin nicht zur Schwangerschaft gratulieren, weil sie das Baby womöglich nicht gewollt haben könnte? Fällt das neue Batikkleid womöglich unter "Cultural Appropriation"? Und darf ich noch mit meinem Coffee to go ins Morgenmeeting? Ein grünes Bewusstsein ist "en woke". Das kann Teams überfordern, nicht alle kommen dabei mit, oft kommt es zwischen jüngeren und älteren Kollegen zur Lagerbildung.

Viele werden es bemerken, Wokeness zieht im Job ein. Die neue Wachsamkeit will nicht weniger als eine gerechtere und bessere Arbeitswelt für alle. Doch das Gefühl, es werde übertrieben, überschattet oft das hehre Ziel. Die einen seien zu laut und anklagend, die anderen sagen besser nichts mehr. Für Teams ist das fordernd. Gerade zwischen jüngeren und älteren Kollegen kommt es zunehmend zu Unverständnis, Kränkungen und Lagerbildungen. Ja, der Wandel tut weh.

Viele kennen das Gefühl der Unsicherheit, etwas Falsches zu sagen. War das jetzt rassistisch oder sexistisch?

Viele kennen das neue Gefühl der Unsicherheit, etwas Falsches zu sagen. Die Angst, Fehler zu machen und dafür "geshamt", "geshitstormt" oder "gecancelt" zu werden, ist verbreitet. "Heutzutage ist ja niemand mehr Rassist oder Sexist. Trotzdem erfahren die Menschen Rassismus und Sexismus", beschreibt der Soziologe Paul Scheibelhofer von der Universität Innsbruck den Widerspruch. Er bezeichnet es als "moderne Diskriminierung", eine Form, die weniger auffällig in unserer Gesellschaft verankert ist. Zum Beispiel, weil Menschen gewisse Routinen und Sprachen verinnerlicht haben, deren diskriminierende Wirkung sie sich oft gar nicht bewusst sind. Dass die neue Wachsamkeit gegenüber Ungerechtigkeiten oftmals überzogen oder unverhältnismäßig wirkt, gehöre zum Wandel dazu.

Sensible Generation Z

Längst sitzen in Meetings Kolleginnen und Kollegen, die bei Vorstellungsrunden selbstverständlich ihr Pronomen nennen. Auch beim Karrierenetzwerk Linkedin kann man anklicken, ob man als weiblich (she/her), männlich (he/him) oder nichtbinär (they/them) angesprochen werden möchte. Insbesondere die heranstrebende Generation Z ist sensibel für die Diversität von Geschlechtsidentitäten und einen respektvollen Umgang damit – es geht um Inklusion.

Hängt hier eine Generation die andere ab? "Tatsächlich ist oft das Problem, dass viele Jüngere zu viel erwarten – von Leuten, die sich noch nie mit diesen Themen befasst haben", erklärt die Diversitätsexpertin Yara Hofbauer vom Beratungsnetzwerk Upright. Hofbauer ist Rechtsanwältin in Wien und berät Arbeitgeber zu Diskriminierungsschutz. In ihrer Arbeit mit Teams beobachtet sie Trotzhaltungen auf beiden Seiten. Man brauche aber Geduld, sagt sie. Das sei wie in der Schule, man beginne nicht gleich mit Wurzelrechnungen. Nur anders als in der Schule sitzen hier meist die Älteren auf der Schulbank und die Jungen besitzen das Wissen.

Protest in den USA gegen Verunglimpfung von Woke
Der frühere US-Vizepräsident Mike Pence sprach Ende April davon, Amerika vor der "woken Linken" zu retten. Gleichzeitig demonstrierten Studierende vor der University of North Carolina gegen diese Rede.
afp

"Die Angst von vielen Menschen, als Rassist, Sexist oder als transfeindlich dazustehen, halte ich für real", sagt Hofbauer. Weil ein Wissen von ihnen erwartet wird, trauen sie sich nicht, Fragen zu stellen – aus Angst, dass die Frage wiederum problematisch ist. "Weiße Menschen denken beispielsweise häufig, dass sie eine Person nicht als 'schwarz' beschreiben dürfen und sagen aus einer gutgemeinten Intention heraus 'dunkelhäutig' oder 'farbig' – Begriffe, die für viele People of Colour allerdings kränkend sind." Schnell stehe so der Vorwurf "Rassist" im Raum. Für Hofbauer fehlt es im Miteinander an Nachsicht und Aufeinanderzugehen. Man müsse mehr zwischen Haltung und Wissen unterscheiden.

Wokeness als Marketing?

Sich der eigenen Privilegien bewusst zu sein umfasst den Kern von Wokeness. Typische Kategorien von Privilegien sind Geschlecht, Sexualität oder Hautfarbe. Der Begriff ist zunehmend politisch aufgeladen, und der rechte Hass gegen alles Woke sitzt tief. Aber auch Linke kritisieren oft Scheinheiligkeit und dass "Wokeness zum Marketingtool verkommt", wie es die Diversitätsexpertin Yara Hobauer beschreibt. "Diversity ist vom Nischenthema zu einem relevanten, ökonomischen Thema gewachsen." Unternehmen erkennen, dass sie sich auf struktureller Ebene damit befassen müssen und ein Tagesworkshop nicht mehr ausreicht.

"Personen, die von Diskriminierung betroffen sind, fangen an, mehr zu fordern und lassen sich nicht mehr von bunten Postings abspeisen." Es braucht funktionierende Melde- und Reaktionsprozesse statt nur einfach eine Diversity-Abteilung. Hofbauer warnt: "Woke-Washing ist ein reales Problem." Die Rechtsanwältin beobachtet das auch auf individueller Ebene. "Wir arbeiten viel mit Führungskräften, die sehr genau wissen, was ein sozial adäquates Verhalten ausmacht. Aber: Man kann auch perfekt gendern und trotzdem Sexist sein." Oft sei es schwierig, das dahinterliegende Mindset zu erkennen.

Dass sich besonders das Feindbild Nummer Eins schwertut, liegt auf der Hand: jener alte, weiße, heterosexuelle Mann, der womöglich sogar Einzelkind ist. Männer sind strukturell privilegiert, sie haben am meisten zu verlieren. Doch selbst in interkulturellen Büros sind sich die Leute  oft niemals "woke" genug.

Die neue Wachsamkeit gegenüber Diskriminierungen nimmt alle ins Visier – und prägt die Arbeitswelt der Zukunft. Das Ziel ist es wert, es geht um eine respektvolle Behandlung, die alle wertschätzt. Damit also "woke Bildungslücken" nicht zum Rückzugsreflex in die eigene, rückenstärkende Bubble führen, sollte noch etwas im Blick bleiben: das Wohlwollen im Miteinander. (Delna Antia-Tatic, 2.7.2023)