Literatur Aufklärung Reemtsma
Als Dichter, Übersetzer, Romancier und politischer Essayist eine Schlüsselfigur der deutschsprachigen Aufklärung: Christoph Martin Wieland (1733–1813), vor den Vorhang geholt von Jan Philipp Reemtsma.
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Als er Napoleon Bonaparte persönlich begegnete, war er uralt geworden, in den Augen notorischer Nörgler wie der Romantiker erschien er als unmodern. Als der Korse 1808 in dem kleinen Fürstentum Weimar aufgetaucht war, musste er mehrmals bitten lassen, bis sich Christoph Martin Wieland (1733–1813) endlich bereitfand, dem Zerstörer der alten Ordnung furchtlos gegenüberzutreten.

Der Kaiser verhielt sich gegenüber dem Greis leutselig. Er sprach mit Wieland über Julius Cäsar und ließ ihn wissen: Roms größtes Genie habe einen unverzeihlichen Fehler begangen, er habe seine nachmaligen Mörder nicht rechtzeitig zu beseitigen gewusst. Insgeheim dachte Wieland, wie er später zu Protokoll gab: Dir wird das Nämliche bestimmt nicht passieren!

Als der damals 75-Jährige Frankreichs Kaiser begegnete, war er ein Prinzenerzieher außer Dienst – er galt als das deutschsprachige Gegenstück zu Voltaire. Dank Wielands Bemühungen, schreibt sein Biograf Jan Philipp Reemtsma, hatte Deutschland endlich Anschluss gefunden an die europäische Literatur.

Frischzellenkur

Als 1794 seine Sämmtlichen Werke letzter Hand zu erscheinen begannen, hatte der heitere Aufklärer bereits eine Unmenge von Romanen und Versepen verfasst. Keiner verstand die Antike dermaßen zu erotisieren wie der Biberacher Pfarrerssohn. So beherrschte er meisterhaft die Kunst, Göttinnen und Nymphen allerliebst das Pülslein zu drücken. In seinen Komischen Erzählungen (1765) dichtete er derart anschaulich von "Auroras und Cephalus’" Treiben, dass selbst "vieljährige Ehemänner" sich von hartnäckigen "Erectionen" geplagt fanden.

Wielands bevorzugtes Knetmittel war die Verssprache: Er verpasste dem schwerfälligen deutschen Idiom eine Frischzellenkur. Mit Inbrunst widmet Reemtsma sich der noblen Aufgabe, Wielands Werk dem Leser, der Leserin mundgerecht zu machen. Jederzeit bestrickt die Leichtigkeit, mit der Wieland zu tändeln versteht. Über die allzu trockene Gelehrsamkeit vieler Philosophen weiß er nichts Günstiges zu berichten: "Die Herren dieser Art blendt oft zu vieles Licht; / Sie sehn den Wald vor lauter Bäumen nicht."

Womit die Herkunft auch dieser Redensart geklärt wäre: Sie stammt aus der Vorratskammer eines rastlosen Erfinders. Reemtsma versieht seine Biografie im Untertitel mit dem entscheidenden Hinweis: "Die Erfindung der modernen deutschen Literatur". Um einem solchen Vorhaben gleichsam die gehörige Grundlage zu verschaffen, macht sich Wieland 1761 daran, Shakespeares Werke ins Deutsche zu übersetzen: eine Pioniertat, die, später aufgrund einiger Fehler verunglimpft, dennoch dem größten Dramatiker aller Zeiten den Weg auf die heimischen Bühnen ebnete. Um das rechte Verständnis der kniffligen Verssprache zu ermöglichen, setzt Wieland zahlreiche Neologismen: Wörter wie Clown, schmerbäuchig, Schulterklopfer, Steckenpferd oder Witwenmacher verdanken sich seiner Findigkeit.

Wielands Genius beschränkt sich keineswegs auf die anspielungsreiche Dichtkunst. Bald reißt man sich in Deutschland um den äußerlich biederen Mann. Nach Jahren der Lehrtätigkeit in Erfurt bestellt ihn die Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach 1772 zum Erzieher ihres erstgeborenen Sohnes Carl August – Letzterer wird später Goethes enger Freund und Gönner.

Nach außen hin mag man Wielands Leben als arm an Ereignissen ansehen. Seine Umtriebigkeit ist gleichwohl ehrfurchtgebietend. Als Herausgeber des Teutschen, später des Neuen Teutschen Merkur schafft er, was es vordem nicht gab: eine literarisch-politische Öffentlichkeit, die, über die lächerlichen Grenzen deutscher Vielstaaterei hinweg, eine vernunftgemäße Einrichtung der Welt propagiert. Es bleibt dem klug wägenden Beobachter Wieland vorbehalten, die Folgen der Französischen Revolution abzuschätzen – und die Alleinherrschaft Bonapartes vorherzusagen.

Wider das Vernünfteln

Schlechter ist es heute um seinen Nachruhm bestellt. Im Reclam-Verlag findet man die Romane Geschichte des Agathon und Geschichte der Abderiden. Im Zweitgenannten liest er allen unvollständig Aufgeklärten gehörig die Leviten. Wieland geißelt die ins Kraut schießende Vernünftelei. Man könnte dieser Tage sagen: Dieser weitsichtige Autor warnte vor einer Vielzahl sogenannter Diskurse, die trotz aller Beredtheit lediglich dabei helfen, die höhere Dummheit zu befördern.

Mit Goethe stand Wieland auf freundschaftlichem Fuß, Spötteleien des Jüngeren steckte er souverän weg. Schwerer tat sich der neunfache Vater hingegen mit dem Zweit-Klassiker, Friedrich Schiller. DieRäuber fand er, selbst 50-jährig geworden, einfach grässlich. Im persönlichen Umgang war Christoph Martin Wieland das, was man liebenswürdig nennt. Die Lektüre von Reemtsmas Monumentalwerk lohnt ungemein, sie hilft, die Entstehung der modernen deutschen Schriftsprache zu begreifen: das gemeinsame Werk unermesslichen Fleißes wie stilistischer Meisterschaft.

Schon Wielands Mitwelt wusste das zu schätzen. Sonst hätte womöglich kein Kaiser ihm persönlich zu begegnen geruht. (Ronald Pohl, 27.6.2023)