Dass die Europäische Union den ambitionierten Klimazielen für 2030 und 2050 weiter hinterherhinkt, zeigte zuletzt der Bericht des Europäischen Rechnungshofs einmal mehr. Es gebe "wenige Hinweise darauf, dass zur Verwirklichung der ambitionierten EU-Ziele für 2030 ausreichende Maßnahmen getroffen werden". Eine Maßnahme, die als besonders wichtig erachtet wird, ist das sogenannte EU-Renaturierungsgesetz, das dafür sorgen soll, 20 Prozent der Land- und Meeresgebiete wiederherzustellen. Biodiversität und natürliche CO2-Speicher sind das Ziel, doch die Europäische Volkspartei (EVP) blockiert das Vorhaben. 

Ein Landwirt pflügt auf einem trockenem Feld
Biodiversität mit landwirtschaftlichen Flächen in Einklang zu bringen hat sich in den Debatten über die Renaturierung als schwierig erwiesen.
APA/HELMUT FOHRINGER

Frage: Worum geht es bei dem Gesetzesvorschlag der EU-Kommission?

Antwort: Das als Renaturierungsgesetz bezeichnete Vorhaben ist Teil eines großen Maßnahmenpakets, dem Europäischen Green Deal. Zahlreiche Gesetze, Verordnungen und Richtlinien sollen dafür sorgen, dass die EU bis 2030 die Emissionen um 55 Prozent senkt, bis 2050 gar keine Nettotreibhausgase mehr produziert. Energieeffizienz, nachhaltige Landwirtschaft, umweltfreundliche Verkehrsmittel: Es soll an vielen Stellschrauben gedreht werden. Eine essenzielle davon ist der Erhalt der Biodiversität.

Genau hier soll die vorgeschlagene Verordnung ansetzen. Trockengelegte Moore sollen wieder vernässt werden, Wälder aufgeforstet. All das mit dem Ziel, Flora und Fauna einen natürlichen Lebensraum zu ermöglichen. Konkret umfasst das Vorhaben, ein Fünftel der Land- und Meeresflächen in der EU wiederherzustellen; aber auch gefährdete Arten sollen geschützt und Städte wie Wälder an den Klimawandel angepasst werden.

Frage: Die Vorhaben klingen legitim. Warum stellt sich die Europäische Volkspartei dagegen?

Antwort: Dass das Gesetz im Kern sinnvoll ist, daran wird gemeinhin wenig gezweifelt. Als Problem werden vielmehr die Ausarbeitung des Gesetzes sowie potenzielle Auswirkungen auf andere Bereiche erachtet. Besonders aus der Landwirtschaft hört man die Sorge, dass Agrarflächen für den Naturschutz geopfert werden könnten. Befürchtet wird, dass den Landwirtinnen und Landwirten wichtige Flächen abhandenkommen, was letztlich zu einer Lebensmittelknappheit und Abhängigkeit von Importen führen könnte. Auch der Verlust von Einnahmen aus der landwirtschaftlichen Tätigkeit treibt Betrieben Sorgenfalten ins Gesicht.

Dass sich die Europäische Volkspartei (EVP), in der auch die ÖVP vertreten ist, auf die Seite der Landwirtschaft schlägt, wird nicht zuletzt an ihrer Wählerschaft festgemacht. Vermutet wird, dass derartige Argumente der EVP nicht ganz uneigennützig sind, schließlich gilt insbesondere die ländliche Wählerschaft als wichtige Klientel der Fraktion und ihrer Parteien. "Populismus auf Kosten der Natur" nennen es die Grünen in Deutschland, als "Geiselhaft" des Umweltschutzes titulieren es die Sozialdemokraten in Österreich. 

Frage: Wie sind die Bedenken von Landwirtschaft und Konservativen einzuschätzen?

Antwort: "Mehr Lebensmittel werden wir importieren müssen, wenn wir uns nicht an den real stattfindenden Klimawandel und die Klimakrise anpassen", gibt EU-Abgeordneter Thomas Waitz (Grüne) zu bedenken. An das Thema der Lebensmittelsicherheit zu denken sei äußerst wichtig – in diesem Fall aber fehl am Platz. Ähnlich sehen das auch Industrie und Wissenschaft. 60 Konzerne um Nestlé, Unilever und Coca-Cola haben sich explizit für das Naturschutzgesetz ausgesprochen. Hinzu kommt ein wissenschaftlicher Faktencheck, unterzeichnet von mehr als 3.000 Expertinnen und Experten aus relevanten Fachgebieten. Die größten Risiken für Lebensmittelknappheit seien demnach die Klimakrise und eine schwindende Biodiversität. Das geplante Gesetzesvorhaben würde damit sogar das landwirtschaftliche Mikroklima stabilisieren und so wichtige Prozesse wie Schädlingsbekämpfung und Bestäubung unterstützen. 

Auch den befürchteten Einnahmeverlusten der Landwirtinnen und Landwirte können Befürworter des Gesetzesvorhabens wenig abgewinnen. Sollten Betriebe ihre Produktion umstellen oder Flächen der Natur widmen müssen, gebe es zahlreiche Fonds der EU, um die Verluste zu kompensieren und Umstrukturierungen zu unterstützen. 

Pascal Canfin bei einer Pressekonferenz der Fraktion Renew Europe im Europäischen Parlament.
Ausschussvorsitzender Pascal Canfin von der liberalen Fraktion wirft der EVP Manipulation bei der Abstimmung vor.
IMAGO/Future Image

Frage: Im Anschluss an die Abstimmung gab es Vorwürfe, die EVP hätte diese manipuliert. Was ist dran?

Antwort: Der Vorwurf stammt vom liberalen französischen Abgeordneten Pascal Canfin, der auch Ausschussvorsitzender ist. Ein Drittel der Stimmen der EVP seien demnach von Nicht-Ausschuss-Mitgliedern abgegeben worden. Drei Viertel davon stammten aus dem Agrarausschuss, der den Gesetzesvorschlag bereits abgelehnt hat, so der Vorwurf. Vonseiten der EVP wird der Vorwurf entschieden zurückgewiesen und Canfin Parteilichkeit vorgeworfen. Es hätte zwar tatsächlich viele Veränderungen bei den Abgeordneten gegeben, aber alles im rechtlichen Rahmen. Einige der Fraktionsmitglieder seien sich in ihrer Entscheidung unsicher gewesen und hätten darum gebeten, ersetzt zu werden. 

Frage: Der Umweltausschuss hat das Gesetz abgelehnt. Was passiert nun?

Antwort: Der zuständige Umweltausschuss des EU-Parlaments konnte keine Mehrheit für das Renaturierungsgesetz erreichen. Letztlich fiel die finale Abstimmung denkbar knapp aus: 44 Stimmen gab es dafür, 44 dagegen. Für den weiteren Verlauf des Gesetzesbeschlusses bedeutet das, dass der Ausschuss eine Ablehnung empfiehlt, wie es in der Geschäftsordnung heißt. Diese Empfehlung wird nun an das Plenum im EU-Parlament weitergereicht, in dem über das Gesetzesvorhaben entschieden wird. Ob dies nun, wie bislang geplant, noch im Juli passiert, ist angesichts der Unstimmigkeiten offen. Die EVP spricht sich jedenfalls für einen grundlegend neuen Vorschlag aus und möchte die Behandlung im Plenum auf September verschieben.

Frage: Wie stehen die Chancen, dass das Vorhaben doch noch umgesetzt wird?

Antwort: Europaparlamentarier von ÖVP und FPÖ sehen in der Entscheidung des Umweltausschusses einen Sieg der Vernunft, SPÖ und Grüne zeigen sich empört. Michael Bloss, klimapolitischer Parlamentssprecher der Grünen in Deutschland, gibt sich dennoch zuversichtlich. Er rechnet im Plenum mit anderen Mehrheitsverhältnissen und hofft auf Zuspruch der liberalen Renew-Fraktion. Das Parteienbündnis um FDP und Neos habe im Plenum eine progressivere Position zum Klimaschutz, eine Umsetzung des Gesetzesvorschlags sei weiterhin am Leben. Und auch innerhalb der EVP gibt es – ausgehend von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – eine gewisse Uneinigkeit. (Nicolas Dworak, 28.6.2023)