PJ Harvey siedelt ihr neues Album am Land an. Wo sonst Absonderliches gedeiht und Städter wie Fremdkörper wirken, schuf sie ein scheues Meisterwerk.
PJ Harvey siedelt ihr neues Album am Land an. Wo sonst Absonderliches gedeiht und Städter wie Fremdkörper wirken, schuf sie ein scheues Meisterwerk.
Steve Gullick

Shakespeare, Gott und Elvis. Dazu ein Grundlehrgang aus der Baumschule. Irgendwelche Brüder mit Blättern oder Nadeln, die nur kennt, wer ein Waldschratt ist oder beruflich der Holzindustrie zuarbeitet. Das sind einige der Zutaten, die PJ Harvey auf ihrem neuen Album I Inside the Old Year Dying in den Häcksler wirft, bevor sie einschaltet. Es sind Sujets, die ihrem in Versform gehaltenen Roman Orlam aus dem Vorjahr entnommen sind. Klingt schrecklich? Könnte es durchaus sein, ja.

Denn diese Zurückgeworfenheit auf etwas, das gerne mit dem Ursprünglichen umschrieben wird, birgt die Gefahr, ins Esoterische und Wurzelseppige zu kippen. Oder es wirkt fremdkörperlich wie ein Städter in greller Funktionskleidung im Unterholz.

Doch PJ Harvey ist PJ Harvey, und das bedeutet einen Sonderstatus. Eine Ausnahmestellung, die die britische Musikerin mit ihren letzten beiden Alben unterstrichen hat, auf denen sie sich und ihre Perspektive neu definierte. Sie vollzog eine Wandlung. Sie verließ das leidlich strapazierte Terrain der vertonten Selbstzerfleischung. Zu oft hat sie sich ausdrucksstark auf den Altar geworfen, bereit, den hölzernen Pfahl im Herzen zu empfangen, das Opfer für einen vermeintlich höheren Zweck zu sein.

PJ Harvey - Lwonesome Tonight (Official Visualiser)

So profan konnte ein Lied gar nicht sein, um nicht zu wirken, als sei sie imstande, das eigene kleine Leben zu geben, wenn es Erlösung oder irgendeine Erkenntnis über das Dasein brächte. Etwaige Übertreibungen in der Interpretation ihrer Kunst bitte großzügig nachzusehen, danke.

Dann aber lehnte sich die heute 53-jährige Polly Jean Harvey plötzlich zurück. Sie nahm sich aus der Schusslinie und verfügte sich in die hinteren Reihen. Sie definierte ihre Rolle neu, begann als Feldherrin ihre Schlachten strategisch zu schlagen, beschloss, nicht mehr selbst an der Front das Schwert zu führen. Das zeichnete sich in Let England Shake erstmals ab und erblühte auf The Hope Six Demolition Project zu einer völlig neuen Qualität im Werk der seit 1992 veröffentlichenden Musikerin. Plötzlich war sie eine nüchterne Chronistin, und diese Distanz verlieh ihrer Musik eine neue Autorität. Diesen Ansatz behält sie bei, selbst wenn sie jetzt die Namen von Bäumen aufzählt.

Dämonen Kurt und Nick

PJ Harvey war von Beginn an anders. Ein Landei, ungesund ausgemergelt, ein Enigma zwischen Angriff und Rückzug. Und so klang auch ihre Musik: Ein Wechselspiel aus Gewinsel im Bluesgefühl und Zornausbrüchen, die sich durchaus gegen sie selbst wenden konnten. So als hätten sich die Dämonen des Nick Cave und des Kurt Cobain ihrer gemeinsam bemächtigt. Sie gilt als verschlossen, lebt zurückgezogen, kaum jemand weiß etwas über sie.

PJ Harvey - I Inside the Old I Dying (Official Video)

Es folgte eine Weltkarriere, tatsächlich eine Liaison mit Cave, den sie aber im Regen stehen ließ. Statt eines egomanischen Junkies krallte sie sich lieber den nüchternen Mick Harvey als rein musikalischen Gefährten. Der damalige Kapellmeister von Caves Band The Bad Seeds ist ein treuer Wegbegleiter der mit ihm nicht verwandten Namensschwägerin. Auf dem aktuellen Album hat er allerdings Pause. Nicht aber John Parish, ein anderer Fixstern ihres Universums, und nicht Produzent Mark Ellis alias Flood, ebenfalls ein treuer Dackel seiner Herrin.

Mit den beiden hat sie I Inside the Old Year Dying erschaffen. Angeblich ein Kraftakt für Harvey, die nach den ausufernden Tourneen des letzten Albums nicht gewusst haben soll, ob sie je wieder Musik veröffentlichen würde, darum der Abstecher in die Literatur.

Grenzgänge

Harvey hat ihre Lieder in den Landstrich ihrer Kindheit versetzt, sie singt gar im dort üblichen Dialekt, was dem Verständnis der Texte nicht förderlich ist, doch selbst ihr Tonfall spricht Bände. Gebettet auf Field-Recordings, also Aufnahmen aus der Umwelt, die vom Vogelgezwitscher bis zur Bahn- oder Kirchenglocke reichen, baute das Trio seine Stücke. Patinierte Rhythmen wie im Song August, Soundloops, Echos und mit Hall belegte Gitarren bilden die Strukturen, die Harveys helle Stimme mit Gefühl überzieht.

PJ Harvey - The Nether-edge (Official Audio)

Es sind Grenzgänge zwischen Melancholie und nüchterner Betrachtung, die eine originäre Atmosphäre ergeben. Parish’ Stimme stützt ihr in manchen Liedern als brummender Counterpart den Rücken – das klingt gut –, Klavier, Beserldrums, Repetition und Klangforschung besorgen den Rest.

Das ergibt Musik von gewagter Schönheit, das ergibt eine noch nicht gehörte Version dieser Künstlerin, die in Titeln wie The Netheredge erblüht, wie jemand es tut, der etwas unerwartet Neues an sich entdeckt. Vorhanden war das alles schon länger, natürlich.

Der Titelsong könnte genauso gut von Let England Shake stammen, und doch ist I Inside the Old Year Dying ein frisches Destillat aus einem alten Fass. Ein kleines Wunder, das eines zeigt: Wenn Harvey nach Wasser dürstet, muss sie sich mittlerweile tief bücken. Kaum jemand ist in der Lage, es ihr einfach so zu reichen. (Karl Fluch, 8.7.2023)