Anohni vor ein paar Jahren. Das aktuelle Promotionfoto ist eines dieser Fotos, die entstehen, wenn jemand sich nicht gerne fotografieren lässt.
Anohni vor ein paar Jahren. Das aktuelle Promotionfoto ist eines dieser Fotos, die entstehen, wenn jemand sich nicht gerne fotografieren lässt.
Beggars Group Photo by Alice O'Malley

Ein Sonnenkind wird aus Anohni keines mehr. Doch das ist gar nicht notwendig. Die Kunst erzielt auf der dunkleren Seite des Daseins ohnehin meist die spannenderen Ergebnisse. Dabei ist es nicht immer die Tristesse, die der Kunst den Grundton beschert. Das am Freitag erscheinende neue Album von Anohni ist dafür ein Beispiel, ein schönes gar. Es heißt My Back Was a Bridge For You To Cross.

Ein bildstarker Titel, der die Bereitschaft formuliert, sich in den Staub zu werfen, auf allen vieren zu kriechen, um anderen die Passage zu erleichtern, den eigenen Rücken dafür zur Verfügung zu stellen, egal, was die Bandscheiben davon halten. Das zeigt eine Wandlung der 51-jährigen Künstlerin. Von einer Egozentrikerin, von einer stets etwas säuerlichen Sicht auf die Welt zu einem engagierten Wesen, das sein Ich nun in den Dienst der Gemeinschaft stellt. Da ist es kein Wunder, dass sie Marvin Gayes Album What’s Going On? als wesentlichen Einfluss für das ihre nennt.What’s Going On? aus dem Jahr 1971 war und ist ein Meisterwerk sozial bewegter Musik.

Schicksalsschläge

Ebenso erwähnt sie Jimmy Scott als Einfluss. Jenen Tragöden mit der unvergleichlichen Stimme, der in Liedern über individuelles Ungemach eine universelle Wirkung erzielte und der – wie Anohni – in Lou Reed einen Förderer fand. In dieser Schnittmenge aus persönlicher Pein und allgemeinen Herausforderungen bewegt sich das Album – überschattet von Schicksalsschlägen im Umfeld der Sängerin.

ANOHNI and the Johnsons - It Must Change (Official Video)

Anohni wurde als Antony Hegarty in England geboren. Ein Misfit, der früh eine Transidentität verspürte, mit ihrer Familie an die US-Westküste zog, als sie zehn war und weitere zehn Jahre später in New York aufschlug. Auf der Suche nach einer Fantasie, in der Andy Warhol und dessen Factory wichtig waren, von deren Aura einer grenzenlosen und waghalsigen kreativen Freiheit sich Anohni angezogen fühlte.

Zu Beginn der Nullerjahre lernte sie tatsächlich den Warhol-Intimus Lou Reed kennenlernte. Reed wurde ein Freund, sie arbeitete mit ihm an seinem Album The Raven (2003). Reeds Lebensgefährtin Laurie Anderson ist mit Anohni bis heute eng befreundet.

Trauerweidige Balladen

Im Jahr 2000 erschien Anohnis titelloses Debütalbum unter dem Namen Antony and the Johnsons, das nach ihrem Durchbruchsalbum I’m a Bird Now 2004 erneut aufgelegt wurde und aus Hegarty einen internationalen Star machte. "Ich bin eine hübsche Blondine im Körper eines Wikingers", sagte sie damals in einem Gespräch mit dem STANDARD.

Ihre Musik war ein Kammer- und Kunst-Pop, der trauerweidige Songs von entrückter Schönheit gebar. In weiterer Folge arbeitete sie mit Björk, mit Yoko Ono, mit Hercules & Love Affair und wurde eine scheue Pop-Celebrity an den Rändern, trug teure Tücher, die angesagte Modedesigner für sie entwarfen – dazu einen Lidstrich, der jenen von Amy Winehouse dezent wirken ließ.

Seit 2015 nennt sie sich Anohni, ein Name, den sie privat schon lange führt. Als diese veröffentlichte sie 2016 das elektronisch geprägte Album Hopelessness, nun kehrt sie auf eine besondere Art zu dem früheren Bandnamen zurück: den Johnsons. Denn das Cover ihres neuen Albums zeigt ein Porträt von Marsha P. Johnson, der Namenspatronin der Johnsons. Eigentlich hieß sie Malcolm Michaels und war in den 1960ern und 1970ern ein als Dragqueen umtriebiger Aktivist in der New Yorker Schwulenszene, eine Figur des Warhol’schen Universums. All das konveniert bestens mit Anohni.

Ein Liebesbekenntnis

Musikalisch begab sie sich für My Back Was a Bridge For You To Cross erstmals in Produzentenhände. Der Brite Jimmy Hogarth entwarf einen Sound, der stellenweise den Südstaatensoul beleihen sollte. Das geht sich nicht aus, doch ein Lied wie die Eröffnungsnummer It Must Change besitzt eine Dringlichkeit, die Soul auszeichnet. Es nimmt Anleihen bei Sam Cookes A Change Is Gonna Come, während seine Zärtlichkeit an Terry Callier erinnert, einen sozial bewegten und zärtlichen Chronisten aus Chicago.

ANOHNI and the Johnsons - Sliver Of Ice (Official Video)

Der frühere Kammerpop ist weitgehend Geschichte, im Setting einer Rockband durchmisst Anohni ihre Themen. Am überzeugendsten ist sie in trägen Balladen wie Sliver of Ice, das ihr letztes Treffen mit Lou Reed memoriert und nichts weniger als ein Liebesbekenntnis an den alten Sauertopf ist.

Es sind verhalten optimistische Lieder, die sich nie weit rauslehnen, keine Prognosen abgeben, lieber in der Schönheit einen Hafen suchen. Das gelingt überzeugend. Anohni findet vom Zweifel zu einer Autorität, wächst wie das Album, dessen Facetten nach jedem Hören deutlicher erscheinen – und leuchten. (Karl Fluch, 5.7.2023)