Sahara-Wüste, Algerien
Die Wüste steht - auch - für das Unvorhersehbare, das man versucht vorwegzunehmen.
Barbara Seyr/Katsey Photography

19. 12. 22, 1. Tag, Abreise:
Desert, das lateinische de-sertum, bezeichnet ein Territorium, das außerhalb des Handels- und Straßennetzes liegt, nicht mehr versorgt wird. Ich habe den Landrover mit 190 l Diesel, etwa 100 kg Essen und 120 l Wasser für die drei Wochen beladen, die wir hinter Hassi Bel Gebbour vom Asphalt abbiegen werden. Wohin aber habe ich nun die Schäkel fürs Abschleppseil gesteckt? Hat die Reiseapotheke alles, was wir brauchen könnten? Die Wüste ist das Unvorhersehbare, das man versucht vorwegzunehmen.

Motorrad-Fahrer in Algerien
Titel
Achtung, festhalten, los geht's!
Barbara Seyr/Katsey

20. 12. 22, 2. Tag, Fähre Marseille–Algier:
Bereits auf der Fähre werden wir daran erinnert, dass man auf einer Reise in die Fremde stets der Fremde ist, weil ja all die anderen dort daheim sind, wo man hinfährt; wir sind die einzigen Europäer an Bord. Wir machen bald Fahrt gegen einen dermaßen harten Wind, dass er Wolken bis knapp oberhalb der Brücke herabweht und einem Passagier die Füße unter den Beinen wegreißt; die Sonne bei ihrem Untergang zerquetscht von den immensen Mächten der Nacht. Wer heute auf ein Schlauchboot gesteckt und hinaus aufs Meer geschickt wird, ertrinkt.

23. 12. 22, 5. Tag, Laghouat:
Um neun Uhr holt uns eine bewaffnete und mit kugelsicheren Westen versehene Eskorte vom Hotel ab. Hinter den Blaulichtern der beiden Motorräder und dem zur Seite weichenden Verkehr wird mir bewusst, dass ich für diese Reise ganze Staatsmaschinerien in Gang gesetzt habe: Ohne die Interventionen der österreichischen Botschafterin und Konsulin bei den algerischen Ministerien (und ohne eine gehörige Portion Überredungskunst unsererseits) gäbe es jetzt nicht diese Gendarmen. Auf den 400 km nach Laghouat, der ersten Oase im Süden, werden sie sich von Kontrollposten zu Kontrollposten abwechseln, ein Dutzend davon, auf einem Stafettenlauf über den Transsahara Highway. In Algier sind sie mit ihren coolen Sonnenbrillen und Helmen eben aus einer Breitwandvorführung von Top Gun gestiegen; je mehr wir uns von der Hauptstadt entfernen, desto mehr gleichen sie jedoch den Polizeistreifen bei uns – nur dass sie freundlicher als diese sind. Kaum werden sie Barbaras mit ihrem halbmeterlangen Objekt ansichtig, bitten sie, in allen denkbaren Posen fotografiert zu werden, mit demselben Ausdruck im Gesicht, den so viele auch in Algier und auf der Fähre Barbara gezeigt haben. Ob auf der Straße oder in den Gassen, auf den Märkten oder den Behörden: Überall wollen uns die Leute "uns gibt es; das sind wir" zu verstehen geben.

Auto in der Sahara
Die Menschenleere der Wüste schürt Urängste.
Barbara Seyr/Katsey

24. 12. 22, 6. Tag, Ghardaia:
Vor 40 Jahren tauchte diese Stadt der Mozabiten vor mir auf wie eine Illustration aus Tausendundeine Nacht, die Frauen bis zur Nase in Weiß verhüllt. Jetzt sind diese Oasen vom öden felsigen Grau verschlungen, von sie in Beton nachahmenden Neubauten mit Fließwasser und Toilette. Die alten Häuser liegen halb verlassen auf ihren Hängen und verfallen; in den Gassen verteidigen die Katzen jetzt ihr Revier, fragen die Männer höflich, ob man auch den Eintritt für den Besuch ihrer Stadt bezahlt hat. Ghardaia ist neben dem libyschen Ghadames eine der wenigen Oasenstädte, in denen man noch erkunden kann, auf welche Weisen die Lehmbauten ineinander geschachtelt gebaut wurden, um sich gegenseitig Schatten zu spenden, ein architektonisches Wissen um Konstruktionen natürlicher Kühlung, das verloren geht. Umgerechnete Preise: 15 Cent – 1 l Diesel; 1 kg Tomaten – 1,50 €; 20 min Taxi oder 1 kg Datteln – 3 €. Lebt eine Gesellschaft in Armut, wie hier trotz des Reichtums an Bodenschätzen, muss sie auf Formen des Status aufbauen. Ansehen zeigt sich als Stolz, an erwiesenem Respekt und über einladende Gesten. Alle drei gründen letztlich auf Macht, die ihre Nische behauptet, um das eigene Ansehen zu bewahren. Der Zollinspektor hat seine, die er ebenso verteidigt wie der Parkwächter, der auf seine schwer nachvollziehbaren Regeln beharrt, nach denen ich das Auto nicht rückwärts an die Mauer parken darf, oder das Zimmermädchen, das um acht Uhr morgens ohne anzuklopfen seine Kontrolle durchführt. Die Machtkreise sind meist sehr klein und überschneiden sich kaum: Abhängig ist in diesem Beamtenstaat jeder von einer stets höher stehenden Autorität, die ihrerseits wieder abhängig ist von Werweißschonwem: Denn wer das ist, wissen nur diejenigen, die über wirkliche Macht verfügen.

Artefakte in der Sahara
Jungsteinzeitliche Funde im Wüstensand.
Barbara Seyr/Katsey

27. 12. 22, 9. Tag, Hassi Messaoud:
Die zahllosen Erdölcamps rund um Hassi Messaoud sind ummauert und bewacht; neben den Förderanlagen erstrecken sich große Brauchwasserteiche, die vom Satelliten aus Erdölseen gleichen. Sonatrach ("Staatliche Gesellschaft für die Suche, den Transport, die Transformation und die Kommerzialisierung von Hydrokarbonaten"), die fürs Erdgas zuständige Sonelgaz und Air Algerie sind die Betriebe, die Algeriens Einkommen generieren und folglich das Land beherrschen.

Wir fahren nach Hassi Bel Guebbour durch das Gassi Touil, das 300 Kilometer lang zwischen dem Großen Östlichen und dem Großen Westlichen Sandmeer hindurchführt. Hohe Dünen im Hintergrund, sehen wir immer wieder Gruppen von Afrikanern am Straßenrand: Jugendliche, Männer mit Frauen, manche mit Kindern im Arm. Manche zeigen mit der Hand, dass sie nichts zu essen oder zu trinken haben. Es ist ein herzzerreißender Anblick, das Pathos des Wortes gerechtfertigt dadurch, dass diese Menschen sich auf eine Wanderung auf Leben und Tod begeben haben, die so weit ist, dass sie unsereins bis nach Sibirien führen würde, und so gefährlich, dass von denen, die es die 3000 Kilometer zu Fuß durch die Sahara schaffen, noch viele elendig im Mittelmeer ertrinken werden.

Kamel in der Wüste
Mann und Kamel und Fährten, die irgendwann einmal ins Nichts führen.
Barbara Seyr/Katsey

29. 12. 22, 11. Tag, Ain El Hadjadj:
In dieser Leere tritt mit dem Tag hervor, wie viel von uns von unserer Umgebung abhängt. Wem nachts kalt war, Eis im Zelt, ist morgens unleidlich. Der Himmel mit grauen Schleiern überzogen, bleibt die Stimmung dementsprechend gedrückt. Die Suche nach einer an unser Ziel führenden Trasse endet unausweichlich in kleinen Irrfahrten, die schließlich entnerven und reflexhaft zu Schuldzuweisungen führen. Da ist nichts anderes zwischen uns und der Welt als wir selbst, ein Weg und die Anstrengungen für beides. Die Fehler bleiben immer die gleichen. Statt Pisten mit Karte und Kompass einfach zu folgen, wohin sie führen, verleiten Satellitenbild und GPS zu Abkürzungen, die meist am Terrain scheitern, an Abbrüchen, Klippen oder Halden von scharfkantigem oder grobem Geröll. Es ist ein Wunder, dass die Reifen dieses Gewalke durchhalten. Und immer wieder zweigen Spuren ab, die in diesem Reg noch Jahrhunderte sichtbar sein werden: ob alte Karawanenpfade oder die parallelen Bänder, die unsere Reifen durch den Kies ziehen. Sie sind das, was wir auf der Erde hinterlassen, egal, wo: nicht mehr als Spuren, Fährten, die irgendwann einmal ins Nichts führen.

Artefakte aus der Sahara
Die Archäologin Massaouda und ihr Fund
Barbara Seyr/Katsey

31. 12. 22, 13. Tag, Erg Issaouan:
Auf dem Weg zurück vermag auch Musik die Weite zwischen dem blauen Himmel und den grob und grau glänzenden Kiesebenen nicht zu schließen. Der einzige menschliche Gesang, der diesen Raum ansatzweise zu füllen scheint, sind seltsamerweise Opernarien, die hier völlig irreal klingen, absurd, aber beinahe die ganze Skala der menschlichen Existenz abzubilden scheinen: vom grellen hohen C bis zum dumpfen Bass, in einem ins Leere verhallenden Vibrato. Als wären auch wir in dieser Wüste nicht mehr als vorübergehende Koloraturen. Es gibt wohl nichts Schöneres, als in dieser Weite mit Menschen zusammen zu sein, die die Anstrengungen mit einem teilen, trotz aller Irrläufe mit einem Lachen; und es gibt nichts Selbstverständlicheres, als gemeinsam ins Feuer zu starren, nur auf Farbe und Formen der Flammen zu achten und die Geschichten zu erzählen, die jeden ausmachen und die dennoch nie das Letzte über einen selbst verraten, Rauch abwechselnd in unseren Gesichtern. Was zum Teufel soll man sich für das Neue Jahr mehr wünschen, als dass das Neue daran genügt? Mehr an Zufriedenheit als jetzt und hier scheint kaum erfahrbar zu sein.

Tuareg in der Wüste
Moktar kocht: Um durch die Wüste zu kommen, muss man gut vorbereitet sein.
Barbara Seyr/Katsey

1. 1. 23, 14. Tag, Ain El Hadjadj:
Am "Käferberg" vorbei eröffnet sich an diesem ersten Morgen des Jahres im Wind ein Panorama des Sandmeers von Issaouan, honigfarben vorn, scharlachrot dahinter. Es übertrifft an Gestalt alles, was wir bisher gesehen haben, dass ich erst nach einem Adjektiv dafür suchen muss: Grandios? Majestätisch? "Sublim" scheint am Passendsten für diese massiven Skulpturen des Windes, vor denen wir untergehen, unsere Unerheblichkeit angesichts ihrer eine Faszination hervorrufend, die etwas von dem Lustschrecken des Erhabenen hat. Messaouda, unsere algerische Archäologin, nennt diese Landschaft "die Myriaden Glieder des Körpers Gottes"; der Felsrücken des Khanfussa hebt sich darin ab wie der Wirbel eines massiven schwarzen Rückgrats.

Intalla, Messaoudas Fahrer, hat die besseren Koordinaten für die Landschaft im Kopf, als wir sie haben könnten: die Karte, die er für eine Route entwirft, ist stets nach Osten (statt unserem Norden) ausgerichtet und bezieht sich auf den Horizont – die Formen von Tafelbergen etwa – und den Verlauf eines Oueds; es sind lauter Bezugspunkt, die er sich im eigentlichen Sinn des Wortes über die Jahre hinweg er-fahren hat.

Wüsten-Küche
Auch der Abwasch macht sich nicht von selbst, schon gar nicht in der Wüste.
Barbara Seyr/Katsey

3. 1. 23, 16. Tag, Tasset:
Über das Plateau Fadnoun, die desolate Öde eines emporgehobenen, schwarz ausgebrannten Meeresbodens. Hinter der Kante des Plateaus dann durchbrechen Kegel, Nadeln und Pfropfen von Basalt den Sandstein, Überreste von Vulkanen, zwischen denen sich die Landschaft in ein ockerfarbenes Wadi Rum verwandelt, dessen Schluchten wir uns zu Fuß erlaufen.

Dabei stoße ich auf einen Ort, an dem ich begraben liegen möchte. Es ist ein Talrund, in dem zwei in ihrer Figur vollkommene islamische Gräber nebeneinander am Fuß einer Klippe liegen: zwei gen Süden gerichtete Männer, deren Köpfe durch Steinhaufen und deren Füße durch zwei Steinplatten markiert wurden (das Grab einer Frau würde man daran erkennen, dass es von Ost nach West gerichtet ist). Um jedes der Gräber ist ein Steinkreis gezogen, der eine Öffnung als einladenden Zugang aufweist. Näher komme ich meinem eigenen Tod im Leben nicht.

Die Wüste verleiht diesmal einer Melancholie Gestalt, indem die überall sich nun raumgreifende Zivilisation, die sich in ihr ausbreitenden Straßen und Städte schwer mit dem Bild vereinbar sind, das ich in meiner Jugend von ihr erhielt. Diese Wüste ist als von der Sonne verbranntes Relikt einer ehemals blühenden Savanne auch irgendwie eine Manifestation all dessen, was man in seinem Leben hinter sich gelassen, vergessen, ausgelöscht hat; all der Brücken, die man hinter sich verbrannt hat: eine Verkörperung des Solitären, das hier so überaus real ist.

Allzu lange halte ich es bei den beiden Gräbern, die wie immer an den schönsten Stellen einer Landschaft liegen, dennoch nicht aus; es zieht mich zurück zum Lager, zu den Freunden, die wir einander geworden sind: Das ist das Einzige, das zählt.

Lagerfeuer in der Wüste
Rituale des Geschichtenerzählens: Abends weht der Wind kalt, wandert Rauch des Feuers im Kreis
Barbara Seyr/Katsey

8. 1. 23, 21. Tag, Telertheba Ost:
Menschliches. Die Leere rund um uns verstärkt die Instinkte; wir haben bereits morgens beim Frühstück mehr Appetit, als wir Hunger haben. Die Weite rund um uns weckt latente Ängste: ein leeres Dieselfass, Mufflonskelette und ein paar Spuren werden sofort als Camp bewaffneter Wilderer oder Schmuggler gedeutet. Die Menschenleere rund um uns erfordert ein Reisen in der Gruppe, in dem sich Ängste ballen: einem Satellitentelefon schlecht verständliche Stimme, Angaben über ein Lager, das nicht dort sein kann, wo es gemeldet wird, einige Unklarheiten erzeugen eine halbe Panik, dass unser Begleitfahrzeug überfallen wurde und wir hergelockt werden sollen. Zwei Wochen auf engstem Raum zusammen nehmen jedem den Freiraum, den er von seinen Egoismen her gewohnt ist; der fehlende Spielraum, die täglichen Anstrengungen, die kalten, oft schlaflosen Nächte, die sprachlichen Barrieren rücken oft absurde Ereignisse derart überzogen in den Mittelpunkt, dass sie sich wie existenzielle Brüche auswirken. Wie ein alter Saharien einmal sagte: Mit den Leuten ist es wie mit einem Teebeutel – was in ihm steckt, merkt man erst, wenn er in heißes Wasser getaucht wird.

Von der halben Höhe des Telertheba aus der Blick über die hunderte Kilometer breite Ebene von Amadror: Basaltpfeiler als Reste längst erodierter Vulkane, dazwischen eine Landschaft von Akazien am Fuß dieses Inselbergs, wilde Kräuter, Büschel hohen Grases und Gebüsch vor einer schwarzsilbernen Geröllwüste, einer ausgestorbenen Serengeti gleich: eine sich so weit erstreckende Fremdheit, als wären wir wirklich, wie man so sagt, auf einem anderen Planeten. Die ebenso rohe wie schwer zu fassende Schönheit des Leblosen. In der wir dennoch unwillkürlich vor allem nach einem suchen: Grabmälern und Artefakten als den Spuren von Menschen, die einmal hier lebten.

Abends weht der Wind kalt, wandert Rauch des Feuers im Kreis, ziehen einzelne Grashalme mit den wechselnden Winden seine Uhr in den Sand, geht der Mond auf, voll und gelb der untergegangenen Sonne gegenüber, ist der tägliche Eintrag in dieses Logbuch, dieses Kurz-die-Geschichte-des-Tages-Erzählen ein Ritual geworden, an dem alle gern teilnehmen.

Rund ums Lagerfeuer sitzen und kurz die Geschichte des Tages erzählen, das ist für den Schriftsteller Raoul Schrott (siehe unten in der Mitte sitzend) und seine Mitreisenden auf der Sahara-Expedition zum Ritual geworden. (Text: Raoul Schrott, Fotografie: Barbara Seyr, 30.6.2023)

Reiseteam in der Sahara
Der Dichter Raoul Schrott (Mitte) und sein Team: v.l.n.r. Navigator Michael Breidenbrücker, Koch Moktar, Fahrer Intalla, Fotografin Barbara Seyr und die Archäologin Messaouda Benmessaoud
Barbara Seyr/Katsey