Christophe Boltanski, "Die Leben des Jacob". Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. € 24,70 / 208 Seiten. Hanser, München 2023.
Verlag

Der französische Schriftsteller und Journalist Christophe Boltanski kommt in den Besitz eines eigentümlichen Objekts von einem Pariser Flohmarkt, das sich als folgenreich für sein eigenes Leben erweisen wird. Bei dem Gegenstand handelt es sich um ein herrenloses Album aus den Jahren 1973/74, allem Anschein nach Bestandteil einer Verlassenschaft, das, "schwer, voluminös, völlig verstaubt", einem "alten Zauberbuch" ähnelt und "den Mief des Elends" verströmt. Es enthält Bilderstreifen mit 369 Fotos, die in Fotokabinen aufgenommen wurden und, mit zwei Ausnahmen, stets nur ein und denselben Menschen zeigen: einen offenbar von einem manischen Selbstdarstellungsdrang besessenen jungen Mann, der mit den bescheideneren technischen Möglichkeiten seiner Zeit eine Selfiekollektion zusammenstellte, wie man sie heute in abertausenden Handyspeichern fände.

Fasziniert von dem ungewöhnlichen Objekt, begibt sich Boltanski auf eine Art Expeditionsreise mit dem Ziel, den Spuren des Unbekannten zu folgen, um so möglichst viel über ihn in Erfahrung zu bringen. Bis zu einem gewissen Grad gelingt dieses Unterfangen auch durchaus, schließlich enthält das Album nicht nur den Namen des zigfach Abgelichteten (eines arabisch-jüdisch klingenden "B’chiri Jacob"), sondern auch eine Vielzahl von Notizen, die allerdings in ihrer Verworrenheit weniger informieren als mystifizieren: "Statt der Nachwelt ein unbeschriebenes Blatt zu übergeben, hinterließ Jacob ein unentwirrbares Durcheinander."

Bruchstücke

Mithilfe einer genauen Sondierung des "Durcheinanders" gelingt es Boltanski herauszufinden, dass Jacob aus einer jüdischen Gemeinde in Tunesien entstammt, die er aber bald verließ, um sich auf eine erratische Reise mit endlos vielen Stationen zu begeben, welche sein Biograf nachvollzieht. Großes Rätselraten, was Jacob, in dessen Leben offenkundig auch Israel eine große Rolle spielte, umgetrieben haben mag. War er ein rastloser Künstler? Manche Adjustierungen auf den Fotos lassen ihn wir einen Piloten oder Postangestellten aussehen. Oder handelte es sich um einen Spion?

Um die Bruchstückhaftigkeit des Suchprozesses formal zu unterstreichen, präsentiert Boltanski seine Recherche nicht in Gestalt eines fortlaufenden, chronologisch voranschreitenden Textes, sondern vielmehr als Assemblage kürzerer Texte. Stets nähert er sich dem Objekt seiner detektivischen Begierde taktvoll und in einer präzisen Sprache an, deren Sog das Buch mühelos bis zum Ende trägt.

Was Boltanski (und mit ihm seine Leserschaft) im Laufe des Unterwegsseins erfährt, betrifft nicht nur Jacob, den nach und nach bekannter werdenden Unbekannten. Sein hartnäckiger Chronist erlebt selbst ein profundes Lehrstück über Identität und die Schwierigkeit, das Abgrundhafte im Reich des Zwischenmenschlichen wenigstens im Ansatz zu überbrücken. In einem seine Arbeit reflektierenden Selbstgespräch meint Boltanski: "‚Es wird immer nur einen Menschen geben, und er ist vollständig in einem Jeden von uns‘. Diesen Satz von Jean Genet könntest du für dich beanspruchen. Und gleichzeitig überprüfst du Tag für Tag, wie unmöglich es ist, einen Menschen einzukreisen, zu erfassen, was er ist." (Christoph Winder, 30.6.2023)