Reiseliteratur Poetry Slammer Heimat
Wie mit unsichtbaren Stricken zerrt das Herkunftsland an seinen Söhnen und Töchtern – gerade zur Sommerszeit wird der Lockruf der Heimat unüberhörbar (hier der Tiroler Tagungsort Alpbach, 2019).
imago images / Roland Mühlanger

Pünktlich zu Schulschluss überkommt viele, sonst unauffällige Menschen ein unerklärliches Fernweh. Die Tinte auf den Schulzeugnissen ist noch nicht trocken, schon setzt geschäftiges Treiben ein: Umwelttickets werden gelöst, ICEs ausgeforscht. Prompt laufen alle Züge der Bundesbahnen schnurgerade, wie auf Sparschiene. Selbst ungeübte Sommerfrischler erreichen, wie von Zauberhand bewegt, ihr meist von den nahen Kalkriesen überschattetes Heimattal.

Lukas nennt sich der Held von Markus Köhles Debütroman. Dessen nicht restlos eleganter Titel lautet: Das Dorf ist wie das Internet, es vergisst nichts. Köhle (48), im wirklichen Leben ein Poetry-Slammer der ersten Stunde, erklärt sich in dem heiteren, als Routenplanungstool nicht ganz zuverlässigen Werk selbst zum Frachtgut. Dabei arbeitet Lukas, sein Double, als "Ein-Personen-Unternehmen". Er textet auf Zuruf.

Zuständig ist er als moderner Heimatkundler für die Erstellung eines Ortsnamenlexikons. Daneben findet Lukas, der wie sein Erfinder aus einem Dorf namens Nassereith in Tirol stammt, ausreichend Zeit und Gelegenheit, private Lexikonartikel zu verfassen. Pate steht ihm zu diesem Behuf der Luftkutscher unter den dichtenden Reiseleitern, Fritz von Herzmanovsky-Orlando.

Stehendes Gewässer

Die Proben von Lukas’ alternativer Österreichkunde folgen keineswegs geläufiger Etymologie. Die Ortschaft "Nussbach" zum Beispiel – unweit von Gmunden gelegen – heißt, wie sie heißt, weil das Verb "nussbacheln" irgendwann einmal die Ausscheidung intensiven, gelbbräunlichen Urins bezeichnet haben soll. Heutzutage stehe das nämliche Gewässer mehr, als dass es fließe. Wohl gerade deshalb finden in ihm alljährlich die Österreichischen Meisterschaften im Nasenschnorcheln statt.

Lukas’ alias Köhles notorische Unfähigkeit, als Experte für Nebenschauplätze wirklich bei der Sache zu bleiben, folgt einem ausgeklügelten System. Der Punkt, an dem sich alle Wege kreuzen, bleibt stets derselbe. Im ICE-Speisewagen finden Österreichs Reisende zuverlässig Unterschlupf, das Bier ist gleichbleibend warm, das Wohlfühlfrühstück erfreulich üppig. Hier wird "jeder Tisch zur kleinen Bühne". Es gilt die Feststellung: "Speisewägen sind rollende Theater, und die Eintrittskarte ist die Fahrkarte."

Die Umkehrlogik dieses Reiseführers ist bezwingend. Alle frisch Zugestiegenen streben zurück zu ihren Wurzeln, jedes Fernweh erlischt. Es verwandelt sich, unter tüchtiger Beimengung nostalgischer Jugenderinnerungen, in reine Nächstenliebe. So kann es in diesem polyglotten Heimatroman sogar passieren, dass Wildfremde einander ihre intimsten Regungen gutherzig auf die Nase binden.

Hinterm Kaukasus sei man gewesen. "In Armenien heißt so gut wie alles Ararat", weiß der Tischpartner angeblich aus erster Hand. Google macht jeden Couchsitzriesen zum Expeditionsleiter. In Wahrheit folgt Lukas’ Lebensreise unerbittlich den Gesetzen der Heimholung. Wie mit einem Kälberstrick zerrt das Dorf, diese Perle des Transitverkehrs, am verlorenen Dichtersohn.

Heimfahren soll er, im Gemeindeamt auftreten. Einen frisch ausgelobten Preis in Gestalt von Warengutscheinen soll der Widerstrebende empfangen. Aber wie heißt es so bitter im Privatlexikoneintrag zu "Imst". Erstens: "Imst ist ein Anagramm von Mist." Zweitens: "Aus-, ab- und verimsten ist ein stadtgeografisches Phänomen. Wenn der Stadtkern ausstirbt und das Stadtleben in die Industriezone und in Fachmarktzentren abrutscht, spricht man (…) von Verimsten."

Langsame Heimkehr

Wenn man, schon von Berufs wegen, in die Bundeshauptstadt Wien abgerutscht ist, tendiert man wenigstens zur Sommerszeit zur langsamen Heimkehr. Einige der schönsten Titel dieser Buchsaison nehmen das eigene Heimweh zum Anlass, in die Nähe zu schweifen, so Birgit Birnbacher in ihrem jüngsten Roman Wovon wir leben. Dort zwingen Atemnot und Berufsfreistellung eine Krankenschwester, den beschwerlichen Weg zurück in die eigene Kindheitslandschaft anzutreten: heim ins keineswegs idyllische "Innergebirg‘".

Nicht nur die Unterscheidung von "Work" und "Life" verliert zunehmend an Trennschärfe. Auch die Ferne ist nicht mehr das, was sie einmal war. Man sollte Xavier de Maistre Gefolgschaft leisten, in die eigenen Zimmerecken ausschwärmen und eine Reise um mein Zimmer (1794) antreten. Man kann nur inständig hoffen, dass das eigene Gemach nicht schon völlig ab- und zugeimstet ist. (Ronald Pohl, 1.7.2023)