Beine ineinandergeschlungen
Die Beine ineinandergeschlungen, wortlos und wollüstig – viele Bilder von gutem Sex lassen verbale und nonverbale Kommunikation außen vor.
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Beinahe jede öffentliche Debatte über sexualisierte Gewalt zeugt von Uneinigkeit darüber, wann genau Sex nicht mehr einvernehmlich ist, sondern zur Gewalt, zum Übergriff wird. Noch immer ist die Vorstellung verbreitet, es wäre romantisch, möglichst ohne Worte oder andere Signale auszukommen. Auch die mediale Inszenierung von Sex trägt viel dazu bei, sagt Erwachsenenbildnerin und Traumapädagogin Maria Dalhoff. 

STANDARD: Was bedeutet Konsens in der Sexualität eigentlich genau?

Dalhoff: In der Regel sind unter Konsens in der Sexualität sexuelle Begegnungen unter Jugendlichen oder unter Erwachsenen zu verstehen, die durch verbale oder deutliche nonverbale Kommunikation abgestimmt werden. Mehrere Begriffe werden häufig synonym verwendet: sexueller Konsens, sexuelle Zustimmung, sexuelles Einverständnis und sexuelle Einvernehmlichkeit. Kern der Begrifflichkeiten ist, dass alle Beteiligten die Bedürfnisse und Wünsche der anderen aktiv berücksichtigen, um einen grenzwahrenden Rahmen für sexuelle Erfahrungen zu schaffen.

Es geht also bei sexueller Zustimmung um Fragen der Entscheidungsfindung in einer "Sphäre der Einvernehmlichkeit". Dabei können Fehler passieren, zum Beispiel, dass Gestik oder Mimik der anderen Person nicht richtig interpretiert werden. Das wäre ein unbeabsichtigter "Zustimmungsunfall" und ist von sich permanent wiederholender Unaufmerksamkeit, Manipulation, cholerischen Ausbrüchen und geplanter Gewalt in der "Sphäre der Übergriffigkeit" abzugrenzen. Sexuelle Einvernehmlichkeit zeichnet sich etwa durch aktive Kooperation, ein gemeinsames Gestalten der sexuellen Handlungen und ein möglichst horizontales Miteinander aus. Die Beteiligten sind freiwillig in das Geschehen involviert, können jederzeit ihre Zustimmung widerrufen und sind in Bezug auf Altersfragen sowie Drogen-/Alkoholkonsum einwilligungsfähig.

Wichtig ist allerdings: Sexueller Konsens wird für jede Personenkonstellation einzigartig ausgestaltet, und allgemeingültige Regeln sind nicht für vielfältige Lebensrealitäten passend.

STANDARD: Warum ist noch immer so stark das Bild verankert, Sex wäre romantisch, wenn sich irgendwie alles ergibt, man nicht redet und der andere quasi intuitiv weiß, man will? Liegt das auch an der medialen Vermittlung von Sex, womöglich auch durch Pornografie?

Dalhoff: Kritik an gewaltvollen Sex-Skripten konnte sich erst seit den 1960er-Jahren schrittweise durchsetzen. Nichtkonsensuelle, gewaltvolle Zugänge zu Sex haben in Österreich (und Europa) eine jahrhundertelange Tradition und sind fest verankert. So waren zum Beispiel Vergewaltigungen von Frauen durch ihre Ehemänner bis 2004 legalisiert, und Vergewaltigungen ohne Einsatz massiver Gewalt sind erst seit 2016 strafrechtlich verfolgbar.

Das Streben in Richtung Konsensorientierung ist eine hart erkämpfte queer-feministische Errungenschaft. Kritik an ihr ist bisher hauptsächlich von antifeministischer, fundamental-christlicher Seite vernehmbar. Mit unterschiedlichen Mitteln wird in diesen Kreisen versucht, die Thematisierung einvernehmlicher sexueller Handlungen als unromantisch zu diskreditieren. Diese Haltung wird auf zahlreichen Wegen transportiert. Selbstverständlich geschieht dies auch durch mediale Inszenierungen und pornografisches Material, das nichtkonsensuelle Handlungen abbildet.

STANDARD: Auf EU-Ebene wurde kürzlich diskutiert, Vergewaltigung entlang des Prinzips "Nur Ja heißt Ja" zu verankern. Was halten Sie davon?

Dalhoff: In den 1970er-Jahren lautete ein Slogan der Anti-Vergewaltigungs-Bewegungen "Nein heißt Nein!". Die Forderung, im sexuellen Kontext ein "Nein" auch als "Nein" zu behandeln, wurde als Strategie zur Verhinderung von sexueller Gewalt und Vergewaltigungen verstanden. Das "Ja heißt Ja!"-Prinzip kritisiert die Verantwortungsfrage und dreht sie um: Zugrunde liegt der Gedanke, dass die Person, die sich sexuelle Handlungen wünscht oder diese initiiert, dafür verantwortlich ist, die explizite Zustimmung aller Beteiligten einzuholen, anstatt erst zu reagieren, wenn ihre Handlungen durch ein Nein unterbrochen werden.

Dieses Prinzip auf EU-Ebene zu verankern ist meines Erachtens zu begrüßen – allerdings halte ich die rechtliche Ebene bei diesen Fragen für nur einen von vielen Aspekten. Denn das strikte Festlegen von Kriterien ist kritisch zu bewerten, da voraussetzungsreiche Ansätze Personen ausschließen, die hochschwellige Ansprüche nicht erfüllen können. Konsens ist keine Frage von Management, sondern muss immer wieder neu und der Konstellation entsprechend mit Leben gefüllt und ständig aktiviert werden. Konsens ist nicht "abhakbar", sondern ein intensiver Prozess.

STANDARD: Wie ist Konsens strafrechtlich fassbar? Wie kann man belegen, dass jemand immer Zustimmung gezeigt hat?

Dalhoff: Die Rechtswissenschafterin Dana-Sophia Valentiner sagt, dass ein prozedurales Konsensmodell für die Gestaltung der Rechtssphäre hilfreich sei. Das prozedurale Konsensmodell stellt Aushandlungsschritte zwischen den Beteiligten ins Zentrum und schließt gleichzeitig Machtverhältnisse und Normen als prägende Variablen konzeptuell ein. Beziehungsverhältnisse, soziale Kontextualisierung und Gesellschaftsstrukturen spielen in diesem Modell eine wesentliche Rolle. Das ist, denke ich, ein umfassender Ansatz, der sexuelle Selbstbestimmung und im engeren Sinne auch sexuellen Konsens strafrechtlich fassbar machen könnte.

Maria Dalhoff forscht zu sexueller Einvernehmlichkeit.
Maria Dalhoff: "Ideen zur Vermittlung konsensueller Entscheidungspraktiken im Rahmen sexueller Bildung – das ist eine Leerstelle."
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Allerdings lässt sich schwer belegen, dass jemand immer Zustimmung gegeben hat. Häufig steht Aussage gegen Aussage. Aus diesem Grund, aber auch weil viele Vergewaltigungen und Übergriffe nicht angezeigt werden, ist es problematisch, große Hoffnung in Strafverfahren zu stecken.

Ein weiterer Grund, diesbezüglich eine kritische Haltung einzunehmen, ist, dass der Begriff "sexueller Konsens" als direkte Übersetzung des englischen "sexual consent" auf ein Näheverhältnis zwischen sexuellen Zustimmungskonzepten und Konsensvorstellungen des liberalen Vertragsdenkens hindeutet. Postkoloniale und feministische Analysen klassischer Vertragstheorien haben hier eine wichtige Rolle: Sie entlarven liberale Erzählungen von Gleichheit und Freiheit in modernen Staaten als einen Deckmantel institutionalisierter Ungleichheit und bieten einen Ansatzpunkt, hoffnungsbeladene Konzepte sexueller Zustimmung kritisch und gleichzeitig solidarisch in den Blick zu nehmen.

STANDARD: Verhindert ein Machtverhältnis zwischen Sexualpartner:innen schon per se konsensualen Sex? Was, wenn jemand erst nachher draufkommt, dass sie (oder er) eingeschüchtert war und deshalb zugestimmt hat – und auf Nachfragen mit Ja geantwortet hat?

Dalhoff: Hier gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Es gibt zum Beispiel einige Pädosexuelle, die sich tragischerweise dafür einsetzen, Sex mit Kindern zu legalisieren, da Kinder – ihrer Meinung nach – einwilligungsfähig seien und sexuellen Handlungen freiwillig zustimmen könnten. Und es gibt viele Personen, die der Meinung sind, dass Individuen prinzipiell frei und gleich stark bzw. mächtig seien und somit konsensuellem Sex "einfach" zustimmen oder ihn ablehnen könnten. Diese Annahme ist Grundlage für das aktuelle, bürgerlich-liberale Rechtsmodell.

Viele Personen, die sich kritisch mit bürgerlich-liberalen Vertragstheorien auseinandersetzen, sind der Meinung, dass konsensualer Sex beispielsweise zwischen Frauen und Männern oder zwischen nichtbinären Personen und Männern eine Illusion sei. Patriarchale Machtverhältnisse stünden dem im Wege, sodass immer nur ein Kompromiss erzielt werden könne, aber kein wirklicher Konsens. Wichtig ist meines Erachtens, Machteffekte wie rassistische Strukturen und gesellschaftliche Positionierungen zu berücksichtigen – beim Versuch, konsensuellen Sex zu gestalten, wie in allen anderen Lebenssituationen auch.

Wenn eine Person erst nachher realisiert, dass sie eingeschüchtert war und deshalb zugestimmt hat, wäre es hilfreich, mit möglichst viel Genauigkeit zu klären, ob es als "Zustimmungsunfall mit sich selbst" einzuschätzen ist und somit der anderen Person nicht angelastet werden kann oder ob Einschüchterung als Mittel genutzt wurde, um zu den gewünschten sexuellen Handlungen zu kommen. Im letzteren Fall ist in der Regel – falls möglich – ein Kontaktabbruch zu empfehlen, da derartige Verhaltensmuster meist tief sitzen und sich nicht schnell ändern lassen.

STANDARD: Wie kann man Jugendlichen vermitteln, was und wie wichtig Konsens beim Sex ist?

Dalhoff: Ideen zur Vermittlung konsensueller Entscheidungspraktiken im Rahmen sexueller Bildung – das ist eine Leerstelle. Es gibt nur wenige spezifische Methoden. Im Rahmen des Forschungsprojekt "Imagining Desires" habe ich gemeinsam mit Kolleg:innen einige Methoden entwickelt. Allgemein lässt sich feststellen, dass Erwachsene nur vermitteln können, was sie selbst kennen. Etwas provokanter formuliert liegt die Vermutung nah, dass aufgrund der kurzen Geschichte gesamtgesellschaftlicher Auseinandersetzung mit egalitären Ansätzen wie Konsens- und Konsentmodellen das Wissen darum nicht sehr verbreitet ist und die meisten Personen auch außerhalb des Sexuellen wenig Vorstellung von konsensueller Entscheidungsfindung haben.

Hier wäre demnach ein Ansatzpunkt: Anstelle von Mehrheitsentscheiden könnten Erwachsene Konsens- und Konsent-Entscheidungsverfahren erlernen. Denn Fragen der sexuellen Einvernehmlichkeit sind – wie erwähnt – Fragen der Entscheidungsfindung. Wie können die Stimmen von allen gehört werden? Wie gelingt es, Minderheitsmeinungen aktiv einzubinden? Wie kann ein Nein nicht als Kränkung wahrgenommen werden?

Hier kann etwa hilfreich sein, die eigenen Entscheidungsmodelle in Arbeitszusammenhängen an soziokratische Systeme anzulehnen, um erst einmal selbst zu üben, was im Anschluss in nichtsexuellen Entscheidungssituationen Jugendlichen vermittelt werden soll. (Beate Hausbichler, 3.7.2023)