Thomas Mayer aus Brüssel

Der Europäische Rat rufe zur Umsetzung aller beschlossenen Maßnahmen zur Migration auf, er "ruft dazu auf, die Arbeit an allen Handlungssträngen entlang der Migrationsrouten zu verstärken". Die Kommission möge "in ihren Bemühungen fortfahren".

Es waren eigentlich nur wenige und im Grunde sehr allgemein gehaltene Sätze wie diese, die für die Schlusserklärungen des EU-Gipfels beim Thema Migration vorgesehen waren. Die Staats- und Regierungschefs wollten damit zu dem von den EU-Innenministern vor drei Wochen im Rat formell beschlossenen Migrationspaket demonstrativ ein Zeichen der Unterstützung setzen.

Ungarns Premier Viktor Orbán beim EU-Gipfel in Brüssel
Ungarns Regierungschef Viktor Orbán stand beim Brüsseler EU-Gipfel einmal mehr im Mittelpunkt.
REUTERS/JOHANNA GERON

Bundeskanzler Karl Nehammer und Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hatten darauf gedrängt, dass die Botschaft noch verstärkt werden solle, wie wichtig der Schutz der EU-Außengrenzen sei; wie notwendig der Kampf gegen Schlepper und irreguläre Migration.

Wochenlang hatten Diplomaten am Entwurf gearbeitet, ein eigenes Kapitel IV in den Schlusserklärungen vorgesehen. Das war der Plan. Wie sich aber am Freitag am Ende des zweitägigen Treffens herausstellte, hatten die Gipfelplaner die Rechnung ohne Wirt, ohne Ungarns Premierminister Viktor Orbán und dessen polnischen Kollegen Matteusz Morawiecki gemacht.

Kapitel gestrichen

Beide hatten bereits in der Nacht auf Freitag nach der Einigung auf eine EU-Sicherheitsgarantie für die Ukraine das Kapitel Migration blockiert. Die Sitzung wurde für einige Stunden unterbrochen. Nach Wiederaufnahme der Gespräche wurde klar: Ungarn und Polen verweigern bei Migration jede Zustimmung. Das Kapitel wurde komplett aus den Schlusserklärungen gestrichen.

Ratspräsident Charles Michel gab stattdessen eine "persönliche Erklärung" ab, in der er festhielt, dass die meisten EU-Staaten sich einig seien. Ungarn und Polen waren im Rat der Innenminister von der Mehrheit überstimmt worden. Daran können auch Staats- und Regierungschefs nicht so einfach etwas ändern.

Dennoch war damit ein kleiner Eklat perfekt. Denn das "Platzen" der Erklärung macht nun in aller Offenheit deutlich, wie gespalten die Union nach wie vor ist, wenn es um Maßnahmen zu Asyl und Migration geht. Kanzler Karl Nehammer, der das Thema im Vorfeld als für Österreich besonders wichtig bezeichnet und Fortschritte gelobt hatte, zeigte Wirkung: Er verließ den EU-Gipfel ohne Stellungnahme, ohne wie üblich eine Pressekonferenz zu geben.

Migrationsgipfel in Wien

Pikant: Der Kanzler hat Orbán und den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić zu einem Migrationsgipfel nächste Woche in Wien eingeladen. Ungarns Premier nahm wenig Rücksicht auf Befindlichkeiten von Partnern. "Im Sitzungssaal spielte sich ein Migrationskrieg ab", beschrieb er die Stimmung in der Nacht davor. "Es war ein Freiheitskampf, kein Aufstand!"

Bereits zuvor hatte er in ungarischen Medien gedroht, dass er alle Beschlüsse zur Ukraine, die Finanzierung der Hilfen, blockieren werde. Die estnische Regierungschefin Kaja Kallas ortete "Verbitterung" über die Debatten zur Migration bereits seit dem Jahr 2015, am Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Auch damals fühlten sich Ungarn und Polen schlecht behandelt, als es um die Verteilung von Asylwerbern nach Länderquoten ging. Nun sieht das Migrationspaket vor, dass EU-Staaten, die freiwillig keine Flüchtlinge aufnehmen, Abschlagszahlungen leisten müssten.

Orbán lehnt das entrüstet ab. Der luxemburgische Premier Xavier Bettel hielt ihm entgegen, Polen und Ungarn könnten nicht einfach die Entscheidungen der Mehrheit blockieren, weil sie "ihnen nicht gefallen. Dann brauchen wir überhaupt nicht mehr herkommen."

Und was ist die Folge der "Nichterklärung" beim Gipfel? Keine. Das Paket des Innenministerrates geht als Nächstes in die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament. Einigt man sich, wird es umgesetzt. EU-Staaten, die EU-Recht nicht umsetzten, müssten mit Strafzahlungen rechnen, wie der deutsche Kanzler Olaf Scholz trocken feststellte. (Thomas Mayer aus Brüssel, 30.6.2023)