Panzer in Russland.
Als sich die Wagner-Söldner am vergangenen Wochenende zurückzogen, wurde ihr abgebrochener "Marsch auf Moskau" von zahlreichen Menschen beklatscht. Deren Ärger gilt eher der Machtelite im Kreml.
APA/AFP/ROMAN ROMOKHOV

Im kleinen Park am Kiewer Bahnhof in der Moskauer Innenstadt räumen Arbeiter der Stadtreinigung Müll weg, eine Parkbank wird repariert. An der Ladenzeile gegenüber wird die Außenwand frisch verklinkert. Mit den Ereignissen am Samstag vor einer Woche, als Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin mit seiner Truppe gen Moskau marschierte, hat das alles natürlich nichts zu tun. Doch es ist ein Sinnbild dafür, wie es den Menschen in Russlands Hauptstadt geht. Aufräumen im Kopf, die Risse kitten. Begreifen, was da geschehen ist.

Eine Rebellentruppe rückte bis 200 Kilometer an Moskau heran. Nicht getarnt, sondern offen, als Marschkolonne. Mit Panzern, Mannschaftstransportern und sogar einer eigenen Flugabwehr. Und niemand hat sie ernsthaft daran gehindert.

"Ja, ich hatte Angst", sagt die 70-jährige Olga dem STANDARD. Sie ist eigentlich glühende Putin-Verehrerin, glaubt an den Kreml, den starken Staat. Aber jetzt? "Wir alle sind sehr besorgt!" Und die Pensionistin Irina (64) ergänzt: "Es passiert etwas Schreckliches im Land. Seit diesem Jahr leben wir in Spannung. Ich mache mir vor allem Sorgen um die Kinder und Enkelkinder. Aber ich glaube und bete zu Gott, dass alles besser wird!"

Putins rascher Meinungsschwenk

Verunsichert sind viele, gerade auch die Anhänger von Kreml-Chef Wladimir Putin. Verunsichert hat sie das Auftreten ihres Präsidenten am vergangenen Samstag. Zuerst, gegen Mittag, ein kämpferischer Putin mit einer Rede, die das Staatsfernsehen gefühlt minütlich wiederholte. Von Verrat sprach er und einem "Dolchstoß in den Rücken". Wer an der Meuterei teilgenommen habe, werde bestraft, jeder, der die Waffen gegen die Armee erhoben habe, sei ein Verräter. "Wir werden siegen und stärker werden", sagte Putin. Wenige Stunden später dann die Kehrtwende, die Einigung, Prigoschins Rückzug und Straffreiheit für alle.

Nach dem von Moskaus Bürgermeister Sergei Sobjanin aus Sicherheitsgründen arbeitsfrei erklärten Montag herrscht jetzt wieder normaler Arbeitsalltag in Moskau. Doch die Stimmung ist nach wie vor gedrückt. Die große Shoppingmall am Kiewer Bahnhof ist gähnend leer, nur wenige Menschen haben Lust auf neue Klamotten, so scheint es. Geschäftiges Treiben dagegen am Bahnhof gegenüber. Manche hatten am Wochenende die Stadt aus Angst verlassen, nun kommen sie zurück.

Wladimir Putin
Kreml-Chef Putin sendete widersprüchliche Signale.
AP

Menschen auf der Flucht

Verärgert hat die Menschen in Moskau auch, dass wohl viele aus der Elite Russland fluchtartig verlassen haben. Darunter Beamte, aber auch wohlhabende Geschäftsleute. Das beschäftigte sogar die Abgeordneten des russischen Parlaments. Vielleicht sei das ja eine Falschinformation, meinte der Abgeordnete Dmitri Gusew. Deshalb sollten die Aufsichtsbehörden die Namen der Personen auf den Passagierlisten veröffentlichen. Man möchte wohl schon gerne wissen, wer sich da so schnell auf den Weg in Richtung Flughafen gemacht hat.

Der 41-jährige Manager Konstantin traf sich an jenem Samstag mit Freunden auf der Datscha. Das war lang geplant, "da die Menschen in Moskau ständig mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt sind", erzählt Konstantin dem STANDARD. "Und trotz der Dramatik des Geschehens haben wir unser Treffen nicht verschoben. Wir tranken Wein, doch beim Verfolgen der Nachrichten gab es viel Angst um die Zukunft. Als es offensichtlich wurde, dass alles zu Ende ging, gab es nervöses Lachen und viel Ironie."

Als dann Präsident Putin auf dem Gelände des Kremls Soldaten und Mitarbeitern der Sicherheitsdienste dankte, erschien die Übertragung im Staatsfernsehen so manchem Moskauer wie ein Bericht aus einem Paralleluniversum. "Sie haben die verfassungsmäßige Ordnung, das Leben, die Sicherheit und die Freiheit unserer Bürger verteidigt, unsere Heimat vor Erschütterungen bewahrt, faktisch einen Bürgerkrieg verhindert", sagte Putin in seiner Rede.

Wer schützt die Zivilbevölkerung?

Aber wo waren die Soldaten, die Sicherheitskräfte, als Prigoschins Marschkolonne auf Moskau zurollte? Das fragen sich die Menschen in der Hauptstadt. Im Netz macht ein Video vom Abzug der Wagner-Truppe aus Rostow am Don die Runde. Die Soldaten packen Ausrüstung und Lebensmittelpakete ein, scherzen mit den Einwohnern der Stadt, machen in aller Ruhe Selfies. Nach einer niedergeschlagenen Rebellion sieht das nicht aus. Eher nach dem Ende eines Wochenendausfluges.

Ein anderes Video zeigt den Einmarsch der Wagner-Truppe in Rostow. Am Straßenrand stehen Soldaten der regulären Armee, Sicherheitskräfte, schauen zu, das Sturmgewehr zeigt nach unten.

Zu Anfang allerdings, als Prigoschins Männer einrückten, hatten die Einwohner der Stadt durchaus auch Angst, berichtet das Onlinemedium Meduza. "Gegen ein Uhr in der Nacht zum 24. Juni gab es ein Grollen über meinem großen Wohnviertel am westlichen Stadtrand. Sowohl Hubschrauber als auch Flugzeuge fliegen hier regelmäßig, aber diesmal war das Grollen viel länger und stärker." Für Daria, so erzählt sie es Meduza, sei das unheimlich gewesen. Und dann sei auch noch für 15 Minuten das Licht ausgegangen. "Ich ging gegen drei Uhr morgens ins Bett, konnte aber kaum schlafen – ich wurde ständig von Vibrationen meines Fitnessarmbandes mit Benachrichtigungen geweckt."

"Gegen zwei Uhr morgens erfuhr ich, was los war. Zuerst dachte ich, es sei Fake, aber am Morgen wurde mir klar, dass es keiner war", sagt wiederum Tatiana. "Ich bin nie auf der Seite von Wagner oder der russischen Armee gestanden, aber nachdem ich Prigoschins Aussagen gehört habe, verstehe ich, dass viele auf seiner Seite stehen können." Die Behörden in Russland hätten sich seit langem schon vom Volk entfernt, meint Tatiana. Und da bringe eben die direkte Art eines Prigoschin "mehr Empathie und Verständnis hervor als trockene und einstudierte Reden und Warnungen der Behörden".

Demonstranten und Militär.
In Rostow am Don war die Situation am Samstag vor einer Woche für viele Zivilistinnen und Zivilisten unübersichtlich.
IMAGO/ITAR-TASS

Sympathie für Prigoschin

In Russland stößt Jewgeni Prigoschin durchaus auf Sympathie. Nicht nur in Moskau und in Rostow am Don. Und auch nicht nur bei Militärbloggern und Hardlinern. Überall in Russland haben die Menschen die Ereignisse von Samstag vor einer Woche verfolgt. "Ich gehe um Mitternacht ins Bett, öffne wie immer die Nachrichten und kann nicht glauben, was los ist", sagt Diana, die in Kasan in der Republik Tatarstan lebt. Kurze Zeit später habe ihre jüngere Schwester an die Badezimmertür geklopft. "Mama, Mama, komm raus, hier hat der Bürgerkrieg begonnen", schrie sie. Am Morgen lasen die Menschen die Nachrichten über die Wagner-Rebellion, sagt Diana. "Ich verstehe nichts – was sind ihre Ziele, was wollen sie erreichen? Aber endlich stellt sich jemand der Regierung entgegen und versucht, Gerechtigkeit durchzusetzen."

Katharina aus Jekaterinburg hatte die Nachricht von Prigoschins Marsch bei Meduza gelesen. "Ich kann nicht sagen, dass ich das nicht erwartet hätte. Prigoschin verhält sich schon lange unverschämt, da er erkennt, dass Putin ihn wirklich braucht. Ich glaube nicht, dass das mit irgendeinem Ergebnis enden wird. Putin wird ebenso wie Verteidigungsminister Schoigu im Amt bleiben."

Aufräumen im Machtapparat?

Und in Moskau, eine Woche danach? Auch in Wladimir Putins Machtapparat scheint das Aufräumen begonnen zu haben. Bereits am Mittwochabend waren in verschiedenen Telegram-Kanälen Spekulationen über eine mögliche Festnahme des russischen Vizegeneralstabschefs Sergej Surowikin aufgetaucht. Die Zeitung Moscow Times berichtete darüber, unter Berufung auf zwei dem Verteidigungsministerium nahestehende Quellen. Surowikin werde im Moskauer Lefortowo-Gefängnis festgehalten und verhört.

Sergej Surowikin gilt als enger Vertrauter Prigoschins. Die Kampfeinsätze in der Ukraine, zuletzt bei der Eroberung von Bachmut, soll Prigoschin in enger Abstimmung mit Surowikin durchgeführt haben. Surowikin sei klug, erfahren und stehe für ein hohes Maß an Effektivität und Erfolg, so der Wagner-Chef in einer früheren Erklärung. Doch während des Marsches der Wagner-Söldner stellte sich Surowikin zumindest öffentlich hinter Kreml-Chef Wladimir Putin und rief Prigoschin in einer Videobotschaft dazu auf, den Machtkampf zu beenden.

Kinder mit Söldner.
Manche Demonstranten ließen es sich aber nicht nehmen, für ein Foto mit Wagner-Söldnern zu posieren.
.EPA

Machtapparat in Bewegung

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow wollte sich nicht zum Verbleib des hochrangigen Militärs äußern, laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax verwies er auf das Verteidigungsministerium. Zur Frage, ob Präsident Wladimir Putin Surowikin weiter vertraue, sagte Peskow, dass der Kreml-Chef als Oberbefehlshaber mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow zusammenarbeite. Zu deren Untergebenen müsse sich das Ministerium äußern.

Was hinter den Kreml-Mauern wirklich vorgeht, weiß niemand. Nur, dass der Machtapparat wohl mächtig in Bewegung ist, das merken die Moskauer. Ständig ist die Innenstadt abgesperrt, ständig staut sich der Verkehr. Aber daran haben sie sich in dieser Woche gewöhnt.

"Was sich in unserem Leben ändern wird? Ich denke, nichts", sagt die 41-jährige Juristin Veronika dem STANDARD. "Wie es war, wird es auch sein. Bei uns hat sogar die Börse nicht groß auf diese Meuterei reagiert." Und Konstantin, der Manager? "Ich habe einen Job bei einer europäischen Firma bekommen und bereite mich darauf vor, in den Westen zu ziehen. Wenn ich dort bin, wird das ganze Theater der russischen Politik zurückbleiben, und ich werde anfangen, normal zu leben." (Jo Angerer aus Moskau, 1.7.2023)