Am Wiener Michaelerplatz kommt einiges zusammen. Straßen aus allen Himmelsrichtungen zum Beispiel. Oder Touristen aus aller Welt. Unter der Woche mischen sich auch noch Bürohengste aus den umliegenden Kanzleien, Ämtern und Behörden dazu, die zu ihren Terminen und Mittagspausen galoppieren.

Dominiert wird der Michaelerplatz aber von anderen Pfertis. Die Wiener Fiaker haben hier einen Standort, der nicht zu übersehen ist und auch olfaktorisch den Ton angibt.

Zwischen Pferdeurin, Cohiba-Zigarren und dem Kaiserschmarrn-Duft der Hofzuckerbäckerei Demel in der Innenstadt: Die ­Geruchsexpertin und Kulturwissenschafterin Stephanie Weismann erstellt im Rahmen einer Citizen-Science-Initiative der Stadt Wien eine digitale
Zwischen Pferdeurin, Cohiba-Zigarren und dem Kaiserschmarrn-Duft der Hofzuckerbäckerei Demel in der Innenstadt: Die ­Geruchsexpertin und Kulturwissenschafterin Stephanie Weismann erstellt im Rahmen einer Citizen-Science-Initiative der Stadt Wien eine digitale "Smell Map" der Grätzel.
Heribert Corn

"Hier riecht es immer nach Pferdebrunze", kommentiert Stephanie Weismann sehr deutlich das Geruchsgeschehen in dieser belebten Ecke der Wiener Innenstadt. Die promovierte Kulturwissenschafterin forscht schon seit Jahren intensiv zu Gerüchen und der Frage, wie diese eine Stadt und ihre Bewohner prägen. Wonach riecht eine Stadt? Was lässt einen die Nase rümpfen? Wo stinkt's, und warum? Welche Gerüche wecken Erinnerungen, und was fühlt man dabei? Welche Stereotype entstehen, wenn Gerüche Menschen oder Gruppen zugeordnet werden?

Unter dem Motto
Unter dem Motto "Wien der Nase nach" wird das Geruchswissen von vielen angezapft.
Heribert Corn

Der Michaelerplatz ist einer der Lieblingsorte der Geruchsexpertin. "Hier treffen Pomp und Prunk auf Profanes", erzählt sie und deutet dabei auf die Hofburg und das riesige Tor, das unentwegt Touristengrüppchen einsaugt und ausspuckt. "Das Widersprüchliche ist irgendwie typisch für Wien – auch bei Gerüchen", fährt Weismann, die diesen Sommer Schnupper- und Schreibworkshops für Wiener und Wienerinnen anbietet, fort.

Das geschieht im Rahmen der Citizen-Science-Initiative der Stadt Wien, "Vom Wissen der vielen". Unter dem Motto "Wien der Nase nach" wird das Geruchswissen von vielen folgendermaßen angezapft: "Sinne schärfen, Nase auf und sich durch sein Wiener Grätzel schnüffeln. Die Eindrücke können dann in einer digitalen 'Smell Map' festgehalten werden.“

Schnupperabo

So entsteht eine Geruchslandkarte der Stadt, die Grätzelgeschichten und Grätzel­erfahrungen aus Gegenwart und Vergangenheit festhält. Die Kulturwissenschafterin setzt dabei auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis: "Keine andere Sinneswahrnehmung triggert Gefühle und Erinnerungen so unmittelbar wie Gerüche." Weil: "Gerüche landen direkt im limbischen System unseres Gehirns, das für Emotionen und Gefühle zuständig ist."

Wie man sich richtig durch die Stadt riecht, demonstriert Weismann ein paar Meter vom Michaelerplatz entfernt am Kohlmarkt. Auf der Luxusmeile residieren Edeljuweliere und Nobellabels wie Gucci, Fendi und Dior. Auch die Hofzuckerbäckerei Demel hat hier seit über 200 Jahren ihren Stammsitz. Das riecht man in der Gasse, denn ab zehn Uhr gibt's täglich Kaiserschmarrn, und der lässt eine nicht zu überriechende warme, puderzuckrige Wolke aus dem Geschäftsportal wabern – selbst wenn direkt daneben frisch asphaltiert wird. Auch ein teures Pflaster braucht ja hin und wieder mal eine kleine Reparaturversiegelung.

Interessantes Bouquet vor einem Fischimbiss am Kohlmarkt.
Interessantes Bouquet vor einem Fischimbiss am Kohlmarkt.
Heribert Corn

"Ich liebe den Geruch von Teer", bemerkt Weismann kurz, bevor sie wieder die Witterung der Konditorei aufnimmt und ein klein wenig stutzt. Irgendetwas passt nicht ganz in die süße Butterschwade, die sich aus dem Demel kämpft. "Es riecht nach angebrannten Zwiebeln und Gulasch", hält die Wissenschafterin kurz inne, um die Geruchsdissonanz einzuordnen. "Das passt wieder genau ins Wiener Duftschema mit seinen ständigen Widersprüchlichkeiten."

Ein paar Meter weiter stößt sie dann auf das nächste interessante Bouquet. Die Schnellrestaurantkette Nordsee führt mitten am Kohlmarkt eine kleine Fischfiliale. Und die drückt der nächsten Umgebung ihren Frittierstempel auf. "Wo außer in Wien gibt es auf Luxuseinkaufsmeilen eine Fisch-Fastfood-Bude?", fragt sich Weismann. Sie steckt ihren Kopf in ein ausrangiertes Schiffsrohr, das vor dem Geschäft an der Hausecke steht und nun als Mistkübel dient.

Smell the rich

Sehr löbliches nachhaltiges Corporate-Design übrigens, aber Luxus riecht dann doch anders. Wie? Steriler. Der Meinl am Graben macht es vor. "Früher roch es hier noch viel intensiver nach Kolonialwaren", fällt Weismann sofort im Gourmettempel auf, der vor zwei Jahren verkleinert und umgebaut wurde. Heute erschnuppert man wirklich kaum Unterschiede zu ordinäreren Supermärkten. Nach Tee riecht es vorm Teeregal im Meidlinger Interspar auch.

Das Duftschema Wiens sei geprägt von ständigen Widersprüchlichkeiten.
Das Duftschema Wiens sei geprägt von ständigen Widersprüchlichkeiten.
Heribert Corn

"Es wird heutzutage alles extrem runtergekühlt, um zu starke Geruchsbildung zu verhindern", findet es die Expertin ein wenig schade, dass die Aromaausbeute hier so dürftig ist. An der Fleischvitrine, wo es derart kalt ist, dass kein Molekül aus diesem Glassarg entkommen kann, hat das aber auch seine Vorteile. "Einer der übelsten Gerüche für mich ist Hendlfleisch bei Zimmertemperatur", fällt Weismann ein. Dass dies eine individuelle Angelegenheit ist, will sie noch einmal festgehalten wissen, ebenso dass Geruchsempfinden immer auch kulturell gelernt wird und Gerüche gesellschaftlich codiert sind.

Ein guter Zeitpunkt, den Ort zu wechseln, um ein Haus weiter, im jüngst eröffneten Store von Louis Vuitton, mal die Nase reinzustecken. "Der Raumduft hat eine subtile Ledernote", stellt Weismann nach wenigen Augenblicken fest. Nicht verwunderlich: Lederwaren sind das Kerngeschäft des Labels. Duft-DNA also. Außerdem: "Verhaltener Ledergeruch wird generell mit Luxus in Verbindung gebracht." Auch wenn in der Lederverarbeitung jahrhundertelang Urin, aber auch Vogel- und Hundekot zum Einsatz kamen, um es beim Gerben schön weich zu bekommen, fügt die Historikerin einen kleinen Exkurs ein. Zeit, an die frische Luft zu gehen, wo die Nasen geforderter sind.

Geschärfte Sinne

Etwa wenn man in die Dorotheergasse einbiegt und beim Brotaufstrich- und Pfiff-Bier-Spezialisten Trześniewski an der Lokaltür gegen eine Wand aus Zwiebel und Ei donnert. Ein paar Schritte weiter riecht es plötzlich feucht und modrig nach Stiegenhaus, und eine Apotheke müsste eigentlich auch irgendwo ganz in der Nähe sein, legt zumindest ein Windstoß nahe.

Eine Geruchswand aus Eiern und Zwiebeln empfängt einen beim Aufstrichspezialisten.
Eine Geruchswand aus Eiern und Zwiebeln empfängt einen beim Aufstrichspezialisten.
Heribert Corn

"Wie wir unsere Umgebung wahrnehmen, ist stark von Gerüchen abhängig, sie helfen uns auch bei der Orientierung – auch wenn uns das nicht immer so bewusst ist", meint Weismann und ergänzt, dass sich dieses Bewusstsein seit der Corona-Pandemie vielleicht sogar geschärft hat. "Nachdem viele Menschen ihren Geruchssinn zeitweise verloren hatten, bemerkten sie erst, wie wichtig und überlebenswichtig dieser Sinn eigentlich ist."

Während Stephanie Weismann das sagt, riecht es sehr verdächtig. Im Park hinter dem Helmut-Zilk-Platz kifft wer. Aber nur kurz. Dann kommt schon wieder eine Wiener Fiakerwolke. (Manfred Gram, 4.7.2023)