Karl Doemens aus Washington

Mike Pence strahlte über das ganze Gesicht. "Ich könnte nicht stolzer auf die neue konservative Mehrheit am Supreme Court sein", erklärte der Ex-Vizepräsident beim ultrarechten Sender Newsmax und lobte die jüngsten Urteile des obersten amerikanischen Gerichts. Am bedeutendsten, so der fundamentalistische Evangelikale, sei die "Bestätigung der Religionsfreiheit in Amerika": Der Supreme Court hatte in der vergangenen Woche entschieden, dass eine christliche Grafikerin einem gleichgeschlechtlichen Paar die Erstellung einer Hochzeitswebseite verweigern darf.

Lorie Smith Supreme Court
Lorie Smith war vor dem Supreme Court erfolgreich, auch wenn ihr Anlass frei erfunden war.
AP/Andrew Harnik

Tatsächlich beruhte die Klage der christlichen Aktivistin Lorie Smith, die zu dem höchst umstrittenen Urteil führte, offenbar auf einer Lügengeschichte. So hatte ihre Agentur "303 Creative" im Örtchen Littleton in Colorado zum Zeitpunkt der Klageeinreichung im September 2016 noch nie irgendeine Hochzeitswebseite entworfen. Noch bizarrer: Der angebliche Kunde, der eine solche Dienstleistung angeblich für sich und seinen homosexuellen Partner bestellen wollte, hat nach Recherchen mehrerer amerikanischer Zeitungen die Agentur nie kontaktiert und ist seit 15 Jahren verheiratet.

Video: Die christliche Grafikerin und Aktivistin Lorie Smith über ihre Klage im Dezember 2022.
AFP

Klage gegen den Bundesstaat Colorado

Mithilfe von Anwälten der rechts-christlichen Alliance Defending Freedom hatte Lorie Smith im September 2016 zunächst gegen den von Demokraten regierten Bundesstaat Colorado geklagt. Auf ihrer Webseite wollte die Grafikerin künstlerische Dienstleistungen für gleichgeschlechtliche Paare ausschließen. Eine solche Selektion von Kunden nach Rasse, Geschlecht oder sexueller Orientierung verbietet das Antidiskriminierungsgesetz des Bundesstaates.

Als im Laufe des Verfahrens klar wurde, dass die Klage vor dem Bezirksgericht scheitern könnte, weil Smith mangels irgendwelcher Aufträge keinerlei tatsächliche Nachteile nachweisen konnte, führten ihre Anwälte einen "Beweis" ein. Sie legten die Mail von einem gewissen "Stewart" vor, der in den Gerichtsunterlagen nur mit Vornamen, aber mit Mail-Adresse und Telefonnummer benannt wird. Darin schreibt der Mann, dass er und sein Freund "Mike" in einigen Monaten heiraten wollen, und zeigt Interesse an der Gestaltung von Einladungs- und Tischkarten sowie möglicherweise auch einer Webseite.

Gang vor den Supreme Court

Im September 2017 wies das Gericht in Colorado die Klage ab. Es gebe keine unmittelbare Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand, geschweige denn ein gleichgeschlechtliches Paar, die Dienste der Agentur in Anspruch nehmen würde, hieß es zur Begründung. Darauf hatten Smith' Anwälte nur gewartet. Sie zogen öffentlichkeitswirksam vor den Supreme Court, dessen mehrheitlich ultrarechte Richter den Fall trotz extrem dünner Faktenlage aufgriffen und zur Grundsatzentscheidung über die Meinungs- und Religionsfreiheit machten.

Von den Rechten in den USA bekommen die Richter nun stürmischen Applaus. Viele Liberale sind hingegen empört. "Das ist ein Skandal", twitterte Chris Murphy, der demokratische Senator von Connecticut: "Der Supreme Court ist nun ein Neun-Personen-Gremium, das Gesetze aufgrund von Klagen macht, deren Kern von befreundeten rechtslastigen Gruppen erfunden wurde." Verkehrsminister Pete Buttigieg, der selbst in einer gleichgeschlechtlichen Ehe lebt, nannte es "entlarvend", dass es keinerlei Belege für den vermeintlichen Anlass der Klage gebe: "Diese Fälle sind konstruiert, um Menschen aufzuwiegeln und Rechte wegzunehmen."

Der überraschte Zeuge

Der Zeuge "Stewart" aber wurde in diesen Tagen erstmals in der Sache kontaktiert. Das Gericht hatte sich offenbar weder für seine Existenz noch für die Echtheit der E-Mail interessiert. In Gesprächen mit dem Magazin "New Republic" und der "Washington Post" zeigte sich der Mann, dessen Telefonnummer und Adresse echt sind, extrem überrascht von dem Vorgang und beteuert, nie eine Mail an Smith geschrieben zu haben.

Dazu hätte es auch wenig Grund gegeben. Nicht nur war "Stewart" 2016 bereits verheiratet. Er ist auch selbst professioneller Webdesigner. Schließlich dürften christlich-fundamentalistische Projekte kaum zu seiner politischen Überzeugung passen: Zum Zeitpunkt der angeblichen Anfrage arbeitete er im Social-Media-Team der damaligen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton. (Karl Doemens aus Washington, 4.7.2023)