Als Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) am Wochenende verkündete, Österreich werde sich am geplanten europäischen Raketenabwehrsystem Sky Shield beteiligen, war die Aufmerksamkeit beträchtlich. Wenig überraschend, denn: Das kleine Land will plötzlich gemeinsam mit anderen europäischen Ländern Waffensysteme einkaufen – und das trotz der Neutralität? Ja, geht das denn überhaupt?

Ein Element des Raketenabwehrsystems Iron Dome
Ein Element des Raketenabwehrsystems Iron Dome, für das Israel rund 200 Millionen Dollar ausgegeben hat.
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In der Antwort sind sich Fachleute weitgehend einig: Ja, das geht. Denn die European Sky Shield Initiative ist ein Luftabwehrsystem, das grundsätzlich der Verteidigung des eigenen Territoriums dient. Und das darf ein neutraler Staat. Europäische Staaten kooperieren bei der Anschaffung, statt um deutlich höhere Kosten jeder für sich nationale Luftabwehrsysteme auszubauen. Eine Beistandsklausel oder ein Bündnisfall wie in den Nato-Verträgen ist nicht geplant.

Sky Shield soll der Abwehr von Drohnen- und Raketenangriffen dienen, ähnlich dem israelischen System Iron Dome. Auf die inzwischen wieder debattierte Frage der Eurofighter-Nachfolge in Österreich hätte die Implementierung des Systems keine Auswirkung. Für etwaige in den heimischen Luftraum eindringende Flugzeuge sind auch weiterhin primär die Abfangjäger zuständig.

Deutsche Initiative

Österreich wäre das 18. Land, das sich der im vergangenen Herbst von Deutschland ersonnenen Initiative anschließt. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte ein solches Luft- und Raketenabwehrsystem bereits im August 2022 während seiner Europarede in der tschechischen Hauptstadt Prag angeregt. Großbritannien, die Slowakei, Lettland, Ungarn, Bulgarien, Belgien, Tschechien, Finnland, Litauen, die Niederlande, Rumänien, Slowenien, Estland sowie Norwegen, allesamt Nato-Mitglieder, schlossen sich der Berliner Initiative im darauffolgenden Oktober an, Nato-Mitglied Dänemark sowie Nato-Aspirant Schweden zogen im Februar 2023 nach.

Großer Abwesender im Konzert der Nato- und EU-Staaten ist – neben Spanien, Italien und Polen – Frankreich. Im Kern geht es um rüstungspolitisches Abwägen: Während Deutschland vor allem auf das weitreichende israelische System Arrow 3 sowie das im Nahbereich wirkende Flugabwehrsystem Iris-T aus deutscher Produktion setzt, lehnt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Ankauf von Arrow 3 sowie des zuletzt auch in der Ukraine bewährten US-Luftabwehrsystems Patriot ab – mit Verweis auf die rüstungsindustrielle Autarkie Europas, die es ihm zufolge nun zu stärken gelte.

Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), der in der Debatte auch die oppositionelle Union hinter sich weiß, mahnt hingegen zur Eile: Man könne nicht warten, bis Europa eigenständig genügend Raketenabwehrsysteme produziert, sondern müsse sich nun auf "Brückentechnologien" konzentrieren – eben Patriot und Arrow 3.

Die neutrale Schweiz, die weder EU noch Nato angehört, denkt dem Vernehmen nach ebenfalls laut über einen Beitritt zur European Sky Shield Initiative nach. Verteidigungsministerin Viola Amherd lotet bei Treffen mit ihren österreichischen und deutschen Konterparts regelmäßig aus, ob und wann das sonst so auf Eigenständigkeit bedachte Bern mitmischen könnte. Erst im Vorjahr hatte das Verteidigungsministerium den Ankauf von US-Patriot-Systemen sowie neuer, hochmoderner F-35A-Kampfjets aus amerikanischer Produktion angekündigt.

Luftstreitkräfte-Kommandant: "Wir müssen auch die Neutralität schützen"

Am Montagabend nahm Gerfried Promberger, Kommandant der Luftstreitkräfte in Österreich, in der "ZiB 2" zu Tanners Vorhaben Stellung. Warum ist Sky Shield für Österreich nötig? "Mein Auftrag ist die Wahrung der Lufthoheit in Österreich", sagte Promberger. "Und das kann ich mit den derzeitigen Mitteln nicht." Österreich habe "veraltetes Gerät". Nun werde man prüfen, welches Produkt für Österreich passend sei. Promberger bezeichnete die Anschaffung von Luftabwehrsystemen mit einer größeren Reichweite – also von mehr als 50 Kilometern – als "wünschenswert" zum Schutz kritischer Infrastruktur.

ZIB 2: Luftstreitkräftekommandant zu "Sky Shield"
Gerfried Promberger, Kommandant der Luftstreitkräfte in Österreich, spricht unter anderem darüber, was "Sky Shield" kann und wie das Projekt mit der Neutralität vereinbar ist.
ORF

Es gehe um eine verteidigungspolitische Zeitenwende. "Wir müssen auch die Neutralität schützen", sagte der Kommandant der Luftstreitkräfte. Über den Einsatz der Raketenabwehr und das Abfeuern einer Lenkwaffe über Österreich entscheide Österreich im konkreten Fall aber allein, betonte der Kommandant der Luftstreitkräfte. "Nicht akzeptabel" für das neutrale Österreich wäre auch, wenn das Oberkommando für das System im Nato-Hauptquartier eingerichtet würde.

Was Österreich zur Zusammenarbeit mehrerer Nationen beitragen könne? Promberger erwähnt den Radaraustausch. Dieser erfolge bereits mit Deutschland seit 2006 und mit der Schweiz seit 2007.

Erneute Debatte um Neutralität

Die Debatte über die österreichische Neutralität ist einmal mehr entfacht. Die Regierungsspitze ist bemüht zu betonen, dass das Projekt die Neutralität nicht gefährde. Es handle sich bloß um eine "Zusammenarbeit von mehreren Staaten" und nicht um ein Militärbündnis, sagte etwa Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP).

Video: Wieso Österreich neutral ist und warum das aktuell wieder zur Debatte steht
DER STANDARD

Rückenwind bekommt die Regierung von Experten: Es handle sich schlichtweg um eine Schutzmaßnahme, das sei kein Problem für die Neutralität, betont Völkerrechtsexperte Franz Cede. Ähnlich sieht das auch der Militärexperte Franz-Stefan Gady. Primär sei Sky Shield eine Art Einkaufsplattform: Als Kollektiv mehrerer europäischer Länder trete man an die Verteidigungsindustrie heran, um Infrastruktur zu einem guten Preis zu bekommen, erklärte er auf Ö1.

Scharfe Kritik kommt von der FPÖ, die im Handeln der Regierung einen Bruch mit der Neutralität sieht. Die Freiheitlichen kritisieren, dass bei Sky Shield fast ausschließlich Nato-Staaten mitmachen würden und der Beitritt zu einem Krieg mit Russland führen könne. Die Neos wiederum begrüßen den Schritt – und wollen sogar noch mehr: "Es ist höchste Zeit für ein klares Bekenntnis zur europäischen Verteidigungsunion", sagt Mandatar Douglas Hoyos. Vonseiten der SPÖ fordert man eine Einbindung des Parlaments. Zudem will SPÖ-Klubchef Philipp Kucher ein Gutachten des Verfassungsdienstes, um Fragen im Zusammenhang mit der Neutralität zu klären. Die Grünen sind offen für eine Beteiligung an Sky Shield, wollen aber Details prüfen. (Florian Niederndorfer, Max Stepan, Martin Tschiderer, 3.7.2023)

Dieser Artikel wurde am 3.7.2023 um 22.26 Uhr mit Aussagen aus der "ZiB 2" ergänzt.