Im Gastblog analysiert der Wirtschaftswissenschafter Albert Hayrapetyan die momentane Position Armeniens im internationalen politischen Kontext.

Armenien, ein kleiner Staat im Südkaukasus, befindet sich in einer komplexen geopolitischen Lage. Das Land liegt zwischen zwei großen Wirtschaftsunionen: der Europäischen Union (EU) und der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU).

Im Jahr 2013 nahm Armenien Verhandlungen über die Teilnahme am EU-Programm der Östlichen Partnerschaft auf, das engere Beziehungen zwischen der EU und sechs ehemaligen Sowjetrepubliken fördern sollte: Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldawien und die Ukraine. Das Programm der Östlichen Partnerschaft bot diesen Ländern wirtschaftliche und politische Unterstützung, einschließlich Freihandelsabkommen, Visaliberalisierung und Finanzhilfe. 2017 unterzeichnete Armenien ein umfassendes und erweitertes Partnerschaftsabkommen (CEPA) mit der EU, das auf eine Vertiefung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Seiten abzielt.

Zwei Politiker stehen vor den Flaggen der EU und Armeniens
Der Premierminister von Armenien Nikol Pashinyan mit dem Präsidenten des Europäischen Rats Charles Michel vor einem Treffen des Europäischen Rats im letzten Jahr.
Foto: EPA/STEPHANIE LECOCQ

Armeniens Bestrebungen, der EU beizutreten, wurden jedoch durch seine Mitgliedschaft in der EAWU erschwert, die 2015 als Gegengewicht zur EU gegründet wurde. Außerdem hatten die Mitgliedsstaaten der Östlichen Partnerschaft bis letztes Jahr keine Beitrittsoption. Die EAWU ist eine Zollunion, der Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan und Russland angehören. Diese bietet ihren Mitgliedern freien Warenverkehr, einen gemeinsamen Außenzoll und Zusammenarbeit in Bereichen wie Energie und Verkehr. Armenien trat der EAWU im Jahr 2015 bei, unter anderem wegen seiner engen Beziehungen zu Russland, das Armenien militärisch und wirtschaftlich unterstützt. Treibende Kraft hinter Armeniens Entscheidung waren vorrangig wirtschaftliche Überlegungen. Mit Russland als wichtigem Handelspartner und bedeutender Quelle für Investitionen versprach die Mitgliedschaft in der EAWU wirtschaftliche Stabilität und stellte Wachstumschancen in Aussicht. Gleichzeitig versprach eine Annäherung an die EU die Handelsbeziehungen über die EAWU hinaus zu erweitern und die Wirtschaft zu diversifizieren.

Eine demokratische Zukunft

Während der Anreiz für eine Mitgliedschaft in der EAWU auf wirtschaftliche Stabilität gerichtet ist, bietet die EU einen Referenzrahmen für Demokratie, Rechtstaatlichkeit, und Transparenz. Die Förderung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und einer marktorientierten Wirtschaftspolitik durch die EU deckt sich mit dem Wunsch der Regierung und breiten Teilen der Bevölkerung, eine moderne und offene Gesellschaft aufzubauen. Doch einer Annäherung an die EU stehen nun Armeniens enge Beziehungen zu Russland und die wirtschaftlichen Vorteile einer EAWU-Mitgliedschaft gegenüber. Dabei kommt vor allem die Energieabhängigkeit des Landes von Russland zum Tragen. Armenien verfügt über keine nennenswerten Energieressourcen und ist in hohem Maße auf Importe, vor allem aus Russland, angewiesen. Russland liefert fast 90 Prozent des armenischen Erdgases und fast 100 Prozent des Kernbrennstoffs. Darüber hinaus ist die armenische Diaspora in Russland ein wichtiger Faktor, der die Beziehungen des Landes mit Russland prägt. Über zwei Millionen ethnische Armenierinnen und Armenier leben in Russland, was sie zur einer der größten Diasporagemeinschaften der Welt macht. Die Diaspora-Gemeinschaft hat erheblichen wirtschaftlichen und politischen Einfluss in Russland und hat die Politik Russlands gegenüber Armenien mitgestaltet.

Auf der anderen Seite war die EU auch sehr daran interessiert, ihre Beziehungen zu Armenien zu stärken. Die CEPA stellte einen wichtigen Meilenstein in den Beziehungen zwischen der EU und Armenien dar, da sie einen Rahmen für die Zusammenarbeit in einer Reihe von Fragen, einschließlich des politischen Dialogs, der Menschenrechte und des Handels, bietet. Darüber hinaus hat die EU Armeniens Bemühungen um die Vertiefung demokratischer Reformen und die Bekämpfung der grassierenden Korruption unterstützt und finanzielle und technische Hilfe zur Stärkung der armenischen Staatsinstitutionen bereitgestellt. Die Beziehungen Armeniens zur EU werden in erster Linie auch von wirtschaftlichen Faktoren bestimmt. Die EU ist nach Russland der zweitgrößte Handelspartner Armeniens, und in den letzten Jahren hat der Handel zwischen Armenien und der EU erheblich zugenommen. Die Beziehungen Armeniens zur EU sind jedoch nicht ohne Risiken und Herausforderungen. Freihandel und marktwirtschaftliche Wirtschaftspolitik der EU stehen im Widerspruch zu Armeniens Streben, die lokale Industrie zu schützen. Auch das erschwert die vollständige Integration des Landes in die Strukturen der EU.

Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine

Armeniens Mitgliedschaft in der von Russland geführten EAWU stellt ein potenzielles Hindernis für engere Beziehungen zur EU dar. Aufbau und Funktionsweise der EAWU stehen im Widerspruch europäischer Normen und Funktionsprinzipien wie Demokratie, Rechtstaatlichkeit und den Menschenrechten. Die EU kritisiert die EAWU wegen ihres Mangels an Transparenz und Rechenschaftspflicht und hat ihre Besorgnis über die Menschenrechtslage in einigen ihrer Mitgliedsstaaten zum Ausdruck gebracht. So steht Armenien letztlich vor einem potenziellen Dilemma, da das Land versucht, seine Verpflichtungen gegenüber der EAWU mit dem Wunsch nach einer Angleichung an die Normen und Werte der EU in Einklang zu bringen.

Weitere Bedenken der EU bestehen hinsichtlich der Auswirkungen EAWU auf die armenische Wirtschaft. Die EU sieht die EAWU als protektionistischen Block, der den Handel und den Wettbewerb einschränkt. Auch wurde kritisiert, dass sich der regulatorische Rahmen der EAWU negativ auf das Geschäftsumfeld des Landes auswirkt. Und letztendlich kommt zu alle dem auch noch der fortdauernde russische Angriffskrieg auf die Ukraine hinzu, der alle Hoffnungen auf Kooperationen zwischen der EU und der EAWU zunichte gemacht hat. Die Sanktionen der EU gegen Russland haben die Beziehungen weiter belastet, die Spannungen verschärft und die ohnehin schon sehr komplexen diplomatischen Beziehungen in der Region noch komplizierter gemacht. Dies gilt einmal mehr, da die Mitgliedschaft Armeniens in der EAWU vor allem auch seine historischen Bindungen zu Russland und seine Identität als postsowjetischer Staat widerspiegelt.

Im Endeffekt ist Armeniens Position zwischen der EU und der EAWU eine komplexe und vielschichtige Angelegenheit, mit der historische, politische, ökonomische und soziale Faktoren verbunden sind. Die Zukunft des Landes zwischen und mit den beiden Wirtschaftsunionen steht dabei im engsten Zusammenhang mit der Frage, wie sich der geopolitische Konflikt zwischen dem Westen und Russland weiterentwickelt. (Albert Hayrapetyan, 6.7.2023)