Nationalrat erleichtert Errichtung von Primärversorgungseinheiten
Der Nationalrat tagt diese Woche zum letzten Mal vor der Sommerpause.
IMAGO/Martin Juen

Wien – Der Nationalrat hat am Donnerstag seinen Sommerkehraus fortgesetzt. Erster Punkt waren Neuerungen in der Primärversorgung, die mit Stimmen von ÖVP, Grünen, SPÖ und Neos angenommen wurden. Die Errichtung entsprechender Einheiten im Gesundheitswesen wird erleichtert und entbürokratisiert, den Ärztekammern ihre Vetomöglichkeit genommen. Im zweiten Anlauf beschlossen wurde zudem der neue Eltern-Kind-Pass mit einem Ausbau der Leistungen.

Aus den aktuell 44 bestehenden Primärversorgungseinheiten (PVE) sollen bis 2025 120 in ganz Österreich werden. Aktuell sind 30 in Planung, davon fünf für Kinder. Statt bisher 340.000 Patientinnen und Patienten sollen so mindestens 705.500 Menschen pro Jahr versorgt werden. Auch andere Gesundheitsberufe als Ärzte können Gesellschafter werden, Ärzte müssen aber mehr als 50 Prozent am Kapital der Gesellschaft halten. Rechtlich ermöglicht werden auch reine Kindermedizin-Einrichtungen.

Die Ärztekammern verlieren ihre Vetomöglichkeit gegen neue PVE. Bei zwei länger unbesetzten Kassenstellen in einer Versorgungsregion kann die Landeszielsteuerungskommission (bestehend aus Land und Sozialversicherung; ohne Ärztekammer) einen Beschluss für eine PVE an einem Standort in dieser Region fassen. Außerdem entfällt die Bedarfsprüfung für gemeinnützige Ambulatorien, die eine PVE betreiben wollen. Rechtlich ermöglicht werden auch reine Kindermedizin-Einrichtungen.

Beschluss laut Rauch "erster Baustein" der Gesundheitsreform

Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) zeigte sich zufrieden. "Was wir heute beschließen, ist ein erster, aber ein ganz wesentlicher Baustein einer umfassender Gesundheitsreform, die wir jetzt versuchen im Zuge des Finanzausgleichs auf den Boden zu bringen." Mit dem forcierten Ermöglichen von Primärversorgungszentren könne man dem Trend zu unbesetzten Kassenarztstellen, dem Boom bei Wahlärzten und dem Ausweichen der Patienten in Spitalsambulanzen entgegentreten, zeigte er sich überzeugt. Für den Finanzausgleich werde man den Sommer durcharbeiten, um ihn dann im Herbst beschließen zu können.

Die Abgeordneten Ralph Schallmeiner und Josef Smolle, die die Novelle für Grüne bzw. ÖVP verhandelt hatten, hoben in ihren Beiträgen auch hervor, dass künftig auch schon zwei Personen eine PVE gründen können und 100 Millionen Euro an Fördermitteln aus dem Aufbau- und Resilienzplan der EU bereitstünden. Mehr als 30 PVE stünden bereits in den Startlöchern. "Die warten darauf, dass wir das hier heute novellieren. Die wollen gründen", sagte Schallmeiner. Grund dafür sei unter anderem das attraktive Arbeitsumfeld, meinte Smolle.

Bei der SPÖ bemühte man sich zu betonen, dass das Primärversorgungsgesetz ursprünglich in der Ära von Christian Kern und Pamela Rendi-Wagner beschlossen worden war. Rudolf Silvan bemängelte aber, dass Maßnahmen gegen den Ärztemangel fehlten. Gerhard Kaniak (FPÖ) sprach in diesem Zusammenhang gar von einem Desaster. "Geld alleine und das, was sie hier vorgelegt haben, wird nicht reichen, um die Probleme zu beseitigen", unterstrich er. Zustimmung zum Gesetz kam hingegen von den Neos. Dass Rauch den Mut zeige, "sich gegen diverse Stakeholder aufzubäumen", begrüßte deren Abgeordnete Fiona Fiedler.

Eltern-Kind-Pass neu beschlossen

Mit Koalitionsstimmen beschlossen wurde danach die Umsetzung des neuen Eltern-Kind-Passes, nachdem dieses Vorhaben im Juni an einem Formalfehler gescheitert war. Mit Jänner 2024 soll das neue, nun digital aufgesetzte Vorsorgeprogramm in Kraft treten, bis 2026 soll der Leistungsumfang um zusätzliche Angebote während der Schwangerschaft bzw. für Neugeborene erweitert werden. Dafür braucht es noch eine Verordnung.

Zu den neuen Leistungen sollen ein Gesundheitsgespräch zu Beginn der Schwangerschaft, eine zweite freiwillige Hebammenberatung vor der Geburt sowie eine Elternberatung gehören. Ermöglicht werden außerdem ein zusätzliches Hörscreening für Neugeborene, ein weiterer Ultraschall sowie eine Ernährungs- und Gesundheitsberatung für Schwangere, Stillende oder junge Eltern.

Neuerungen im Pflegebereich

Beschlossen wurden auch weitere Neuerungen im Pflegebereich, darunter die Ausweitung der Befugnisse von Pflegepersonal, Erleichterungen bei der Anerkennung ausländischer Berufsausbildungen und ein einfacherer Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen. So können diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegende künftig bestimmte Medizinprodukte wie Verbandsmaterialien, Gehhilfen oder Inkontinenzprodukte selbstständig verordnen. Ihre Ausbildung und Berufserfahrung wird außerdem in höherem Ausmaß auf die Bachelor-Ausbildung an Fachhochschulen angerechnet.

Um die gemeinsame Betreuung alter Menschen in sogenannten "Pensionst:innen-WGs" zu ermöglichen, werden 24-Stunden-Betreuerinnen und -Betreuer künftig bis zu drei betreuungspflichtige Menschen in einem Haushalt betreuen dürfen, auch wenn diese nicht in einem Angehörigenverhältnis zueinander stehen. Zivildiener werden künftig unterstützende Tätigkeiten bei der Basisversorgung an den von ihnen betreuten Personen durchführen dürfen, wenn sie ein entsprechendes Ausbildungsmodul absolviert haben.

Barrierefreiheit wird deutlich ausgeweitet

Beschlossen wurde Donnerstagmittag überdies der deutliche Ausbau der Barrierefreiheit. Die Basis dafür bildet ein einstimmiger Beschluss des Nationalrats, der vor allem auf elektronische Geräte abzielt. So müssen Mobiltelefone, PCs, Fahrkartenautomaten und ähnliche Geräte ebenso barrierefrei sein wie beispielsweise Online-Shops. Dies gilt ab Juni 2025, allerdings mit Ausnahmen.

Technisch gesehen handelt es sich um die Umsetzung einer EU-Bestimmung. Neben den Geräten sind Dienstleistungen wie E-Banking, E-Commerce, E-Ticketing, Videotelefonie, Online-Messenger-Dienste, E-Books und SMS-Dienste umfasst. Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitern und einem Jahresumsatz bzw. einer Jahresbilanzsumme von maximal zwei Millionen Euro fallen nicht unter das Gesetz.

Bei Zuwiderhandeln ist unter anderem die Verhängung einer Verwaltungsstrafe bis zu 80.000 Euro und als Ultima Ratio auch ein Produktrückruf möglich. Für die SPÖ ist die finanzielle Strafandrohung zu gering. Die Opposition hätte insgesamt gewünscht, dass Verbesserungen über den Schwerpunkt Informations- und Kommunikationstechnologie hinaus vorgenommen würden.

Beschwerdestelle gegen Polizeigewalt

Außerdem beschloss der Nationalrat die Einrichtung einer Beschwerdestelle gegen Polizeigewalt. Sie wird als eigene Organisationseinheit im zum Innenressort gehörigen Bundesamt für Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung angesiedelt und mit umfassenden polizeilichen Befugnissen ausgestattet. SPÖ und NEOS zweifelten angesichts der Nähe zum Innenressort an der Unabhängigkeit, während die FPÖ Diffamierung der Beamten befürchtete.

Neben einer interdisziplinären Besetzung der Ermittlungsstelle ist auch eine spezialisierte Ausbildung der Bediensteten vorgesehen. Zur Sicherstellung der gesetzmäßigen Aufgabenerfüllung soll ein unabhängiger und weisungsfreier Beirat beim Innenministerium eingerichtet werden. Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) zeigte sich zufrieden: "Ich denke, dass im Sinne aller etwas Gutes gelungen ist." Sein Parteikollege Wolfgang Gerstl sprach vom Recht der Polizisten, nicht im Vorhinein verdächtigt zu werden. In diesem Sinne habe man die Bodycams eingeführt. Die Beschwerdestelle sei nun der nächste Schritt.

SPÖ und NEOS sahen das nicht so. Dass die Stelle laut Regierungsvorlage außerhalb der "klassischen Hierarchie der Sicherheitsexekutive" angesiedelt ist, überzeugte Vertreterinnen beider Fraktionen nicht. Die ÖVP habe das Innenressort inne und betreibe "systematische Postenkorruption", argumentierte Stephanie Krisper (NEOS). Eine unabhängige Stelle forderte auch Sabine Schatz (SPÖ) ein.

Als Ausdruck der neuerlichen Geringschätzung der Polizisten wertete hingegen FPÖ-Mandatar und Polizei-Personalvertreter Werner Herbert das Vorhaben. Er befürchtete eine "neue Diffamierungs- und Vernaderungsstelle" und stieß sich an der Beteiligung von NGO-Vertretern, die die Polizei unter Generalverdacht stellten. Positiv hingegen die Erwartung vom Grünen Georg Bürstmayr. "Niemand muss mehr zur Polizei, um sich über einen Polizeiübergriff zu beschweren", sagte er.

Aufgewertet wird die Freiwilligenarbeit, indem es beim Freiwilligen Sozialjahr und beim Freiwilligen Umweltschutzjahr ein höheres Taschengeld gibt. Im Pflegebereich ist eine Ausweitung der Befugnisse von Pflegepersonal vorgesehen. Beim neuen Krisensicherheitsgesetz kommt eine einfachgesetzliche Regelung, denn die notwendige Zweidrittelmehrheit fehlt.(APA, red, 6.7.2023)