Bildhauer Andreas Urteil, wie er um 1960 gerade an einer Skulptur mit dem Titel "Stehende mit erhobenem Arm" arbeitete.
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Ich stehe auf dem Kogelberg über dem Steinbruch St. Margarethen und schaue lange und still Richtung Pannonien auf den dreizehntausend Jahre alten Neusiedler See, den es wegen immer längerer Trockenperioden bald möglicherweise nicht mehr geben wird. Viele Kenner sagen, wenn der Wasserstand sinkt, soll nichts dagegen unternommen werden, denn gerade so wird der salzhaltige Steppensee langfristig am Leben gehalten. Der unbeeinflusste Ablauf natürlicher Prozesse soll weiterhin Vorrang haben, in den Schilfgürtel soll nicht eingegriffen werden, sodass der geeignete Lebensraum für verschiedene Arten erhalten werden kann.

Der Himmel an dem Frühlingstag ist sehr blau, die grüne Landschaft durch das weitläufige Wulkatal mit seiner besonders großen Vielfalt des Lebendigen gekennzeichnet. Ich höre leise Schreie und Gelächter aus Leonardos Flugmaschine aus dem Freizeitpark in der Ferne, im Takt vor dem lebhaften Geschwirr der Insekten, Zwergdommeln und Schilfrohrsänger.

Menschliche Protestfackel

Direkt vor mir steht die monumentale Skulptur Glockenturm für Jan Palach aus hiesigem Kalksandstein von Jiří Seifert aus dem Jahr 1969. Der Bildhauer hat mit dem eindrucksvollen Werk an den tschechoslowakischen Studenten erinnert, der sich im Januar 1969 aus Protest gegen die sowjetische Okkupation auf dem Prager Wenzelsplatz selbst verbrannte. In seinem letzten Brief, unterzeichnet als menschliche "Fackel Nr. 1", schrieb Palach: "In Anbetracht dessen, dass sich unsere Völker am Rande der totalen Hoffnungslosigkeit befinden, haben wir beschlossen, unseren Protest zu erheben und das Volk dieses Landes wachzurütteln ... Ich glaube, dass mehr Licht nicht nötig sein wird."

Palach wollte nicht, dass seine Heimat zur russischen Kolonie wird, er wollte etwas dagegen unternehmen, seine Landsleute aufrütteln, die gerade dabei waren, sich mit der Niederschlagung des Prager Frühlings abzufinden und zu kapitulieren. "Der Mensch muss das Böse so gut wie nur möglich bekämpfen", sagte er seiner Ärztin, als er noch im Krankenhaus reden konnte.

Den Bildhauer Seifert haben der Aufenthalt in St. Margarethen und die kreative Arbeit in der burgenländischen Skulpturenlandschaft für immer verändert. Nach der Vollendung von Glockenturm in St. Margarethen bekam er in Folge in ČSSR das Ausstellungsverbot, sein Werk verschwand aus den Galerien, sein Name aus der Kunstwelt, sein Reisepass wurde beschlagnahmt. Erst zwanzig Jahre später, nach der Samtenen Revolution im November 1989, durfte Jiří Seifert wieder ohne Zensur künstlerisch weiterarbeiten, und inzwischen sind seine Skulpturen weltweit, auch im Londoner British Museum, ausgestellt.

Den Stacheldraht durchschneiden

Die Wende begann im Juni 1989 unweit vom Ort, an dem ich stehe. Beim Paneuropäischen Picknick in der Nähe von Sopron öffnete sich für kurze Zeit der Grenzzaun zwischen Ungarn und Österreich. Zu der Veranstaltung luden das oppositionelle Ungarische Demokratische Forum und die Paneuropa-Union mit Flugzetteln und Plakaten. Man wollte sich treffen, ein friedliches Zusammentreffen feiern und vielleicht auch den Stacheldraht zwischen Ost und West symbolisch durchschneiden. Doch als die beiden damaligen ungarischen und der österreichischen Außenminister den Grenzzaun tatsächlich durchgetrennt hatten, setzte sich eine Menschenmenge in Bewegung Richtung Westen, in die freie Welt. DDR-Bürgerinnen und -Bürger haben ihre Autos mit allem stehen gelassen und liefen nur mit den Kleidern am Körper ins Burgenland.

Auch ich habe damals die heißen Sommerferien mit meinen Eltern in einem Zeltlager in Ungarn verbracht. Auf dem Campingplatz sah ich immer mehr leere Zelte und verlassene Trabis und Wartburgs. Die größte Massenflucht aus Ostdeutschland seit dem Bau der Berliner Mauer begann. Ich konnte es nicht fassen. Es war überwältigend. Es war ein Glück, dass ich das als Junge miterleben durfte. Wir waren ein Teil der europäischen Geschichte. Danach wurde die Grenze zwar wieder geschlossen, aber nur noch für kurze Zeit. Drei Monate später gab es den Eisernen Vorhang nicht mehr.

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Karl Prantl (1923–2010) erlebte im Steinbruch von St. Margarethen eine besondere Freiheit, die er vielen Kolleginnen und Kollegen zuteilwerden ließ.
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Traum vom gefallenen Vorhang

Genau davon träumte schon Karl Prantl, österreichischer Künstler, der seit 1959 die internationalen Bildhauersymposien im Steinbruch St. Margarethen organisierte. Ein sehr junger Prantl kämpfte in der Wehrmacht in Griechenland, wo gegen das rücksichtslose deutsche Besatzungsregime zahlreiche Widerstandsgruppen jahrelang einen für beide Seiten verlustreichen Partisanenkrieg führten, er kannte und hasste den Krieg, den Stacheldraht, die Diktaturen.

Alles begann mit einem sehr großen Grenzstein, den der Steinhauer Prantl im Auftrag des Burgenlandes für die österreichisch-ungarische dichte Grenze schuf. In St. Margarethen entdeckte der Autodidakt einen der ältesten noch aktiven Werksteinbrüche in der Mitte Europas und damit auch sein liebstes Werkmaterial sowie die Arbeit unter freiem Himmel. Sein Netzwerk an kreativen Kolleginnen und Kollegen reichte bald von Japan bis nach England, und einer seiner Schwerpunkte war auch damals oft übersehene Osteuropa.

Gegen die Zensur

Dabei ging es neben dem Erfahrungsaustausch und dem gemeinsamen freien Schaffen in der Natur immer auch um eine politische Intervention: gegen die Zensur und gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Zur Konzeption gehörten auch literarische Lesungen und musikalische Produktionen auch mit Kulturschaffenden jenseits des Eisernen Vorhangs. Viele Teilnehmende organisierten später nach Prantls Vorbild in ihren Heimatländern ähnliche Symposien.

Der Steinbruch St. Margarethen war bereits beim Bau von Carnuntum, der Hauptstadt der Provinz Oberpannonien mit 50.000 Einwohnern, – im dritten Jahrhundert nach Christus! – in Betrieb. Die Kontrolle über die Ressourcen war für das Römische Reich bei der Machterhaltung von besonderer Bedeutung. Der dreißig Millionen Jahre alte, gelbbräunliche Kalksandstein ist durch alte Lagunenablagerungen wie Muscheln und Korallen geprägt. Ruster Hügelland lag auch einmal im tiefen Meer, das bis ins Wiener Becken reichte.

Hercules als Schutzgott

Die Römer errichteten im heutigen Österreich erstmals Häuser und Mauern aus Stein. Rom oder Vindobona wurden nicht an einem Tag erbaut. Die Freigelassenen und Sklaven des Kaisers, die Offiziere und Soldaten der Armee, die Beamten, aber auch Sträflinge und freie Arbeitskräfte wurden in den Steinbrüchen des riesigen Reiches eingesetzt. Die rasche Expansion während der späten Republik führte zu einem großen Bedarf an Baumaterial sowie Dekoration nach dem Vorbild der Griechen. Die ganze Region war wegen Grenzsicherung geopolitisch sowie militärisch wichtig und lag an den großen Handelsrouten. Plinius schreibt in seiner Naturalis historia viel über die Steinbrüche. Von ihm wissen wir auch, dass Hercules in seiner Eigenschaft als Bezwinger schwieriger Aufgaben unter den Namen Hercules Saxanus, auch Maliator genannt, als Schutzgott der Steinbrüche und der Steinmetze und Steinklopfer galt, wie zahlreiche Votivinschriften bezeugen.

Im Laufe von zwei Jahrtausenden, von den Anfängen bis heute, hat die Produktion in jeder ihrer Phasen zahlreiche Veränderungen erfahren: vom Abbau über den Transport bis hin zu den Verarbeitungstechniken. Auch der gotische Stephansdom, die Wiener Ringstraßenbauten der Gründerzeit oder der Oberbau der Semmeringbahn wurden aus dem Kalksandstein aus St. Margarethen gebaut. Besonders schönen und harten Stein sieht man heute noch an der "Stephanswand" bei den Renovierungsarbeiten der Dombauhütte. Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Esterházy’sche Steinbruch sogar an die burgenländische Bahn angeschlossen. Ich konnte im gelben Sand die alten Schienen noch deutlich sehen.

Autor Michal Hvorecký.
Martina Simkovicova

Freiwerden und Freidenken

Prantl schrieb: "Wir Bildhauer ... durch die Erfahrungen von St. Margarethen, durch Hinausgehen in den Freiraum – in den Steinbruch, auf die Wiesen – wieder frei wurden. Um dieses Freiwerden oder Freidenken in einem ganz weiten Sinn ging es. Für uns Bildhauer ist der Stein das Mittel, um zu diesem Freidenken zu kommen – zum Freiwerden von vielen Zwängen, Engen und Tabus ... Die Steine erzählen von Wolken und Wind, von den Sternen und dem Schnee, die sollen dort stehen bleiben, wo sie geschaffen wurden, und für alle Menschen da sein."

Kein Wunder, dass gerade die Naturkulisse des Steinbruchs St. Margarethen im Jahre 1961, ebenfalls auf Anregung von Karl Prantl, zur Bühne für Passionsspiele mit Laien und seit 1996 auch für die spektakulärste Kunstform wurde – für die Oper, diese Gesamtheit der Ausdrucksformen, in welchen wir Liebe, Sehnsucht oder Verlust und Hass erleben.

Besuchen Sie am Abend eine Vorstellung, und wandern Sie am Tag auch am magischen Kogelberg, entdecken Sie mehr als fünfzig Skulpturen aus mehreren Jahrzehnten, die dort stehen, wo sie geschaffen wurden, und hören Sie, was die Steine von Wolken, Wind und Schnee zu erzählen haben. Diese Kunst ist zum Anfassen und für alle Menschen da. Schauen Sie sich auch die fossilen Funde an, die Fische, die Muscheln, Wirbelknochen von Walen und Haizähne. Kommen Sie mit. Die Kunst ist das Mittel. Werden Sie wieder frei. (Michal Hvorecký, 7.7.2023)