Vom Bahnhof Bratislava-Petržalka tuckert der Bus Nummer 80 ein paar Minuten Richtung Südwesten, vorbei an Industriebauten bis zur Brücke der Stadtautobahn D2. Hier sollte Bratislava eigentlich zu Ende sein, jedenfalls baulich – das war ein ungeschriebenes Gesetz: Die Flächen entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs sollten als Grün­gürtel erhalten bleiben.

Doch Bus Nummer 80 fährt unter der Autobahn durch und ein paar Hundert Meter weiter bis zur Endstation Nesto. Hier sind Rohbauten eines brandneuen Stadtteils zu sehen. 2024 sollen die ersten Menschen einziehen, bis zu 11.000 könnten es einmal werden. Marketingleiter Pavel Baslik verspricht beim Besuch des STANDARD eine 20-Minuten-Stadt mit Wohnungen, Restaurants, Spielplätzen und Geschäften.

Nesto Bratislava Grenze
Bauprojekt Nesto in Bratislava-Petrzalka direkt an der österreichischen Grenze.
Putschögl

Nur ein paar Meter westlich davon liegt die Staatsgrenze, direkt dahinter die Gemeinde Kittsee. Spaziert man die Preßburger Straße entlang, vorbei an alten Bunkern und Feldern, ist man in fünfzehn Minuten am Hauptplatz von Kittsee. Dort knallt an diesem Junitag um die Mittagszeit die Sonne auf den Asphalt, kaum jemand ist zu Fuß unterwegs. Ein paar Autos halten, Menschen steigen aus und hüpfen kurz in die Apotheke, in die Bäckerei oder in die Trafik. Ein Springbrunnen plätschert leise vor sich hin. Die Sessel eines Bistros sind an die Tische gelehnt, es hat geschlossen.

Noch einmal eineinhalb Kilometer weiter westlich stehen zwei Fachmarktzentren. Ihre Parkplätze sind gut gefüllt. Hier ist fast jede Supermarktkette des Landes vertreten. Für eine Gemeinde wie Kittsee mit knapp 4000 Einwohnern ist das zwar beachtlich, aber für Österreich dennoch nicht außergewöhnlich.

Hauptplatz Kittsee
Der Hauptplatz von Kittsee.
Redl

Auf den zweiten Blick ist hier in Kittsee aber doch etwas anders. Vor vielen Häusern und Geschäften parken Autos mit slowakischen Kennzeichen. Etwa die Hälfte der Menschen, die in Kittsee wohnen, und auch viele, die hier arbeiten, sind aus der Slowakei. Sie sind oft schon vor Jahren aus dem Raum Bratislava nach Kittsee gezogen, darunter viele junge Familien. Warum? "Weil das Wohnen hier billiger ist", sagt eine junge Kittseerin, die seit 2010 mit ihrer Familie hier lebt, und sie erzählt von einer Siedlung, in der sehr viele junge Familien aus der Slowakei wohnen. Zwischendurch fragt sie ihren Sohn nach einem Wort, das ihr auf Deutsch nicht einfällt.

Wie ihr Mann arbeitet auch sie in der Slowakei, einkaufen geht sie in Kittsee, auch viele ihrer Freunde leben hier. Sie fühlt sich wohl. "Alle sind sehr freundlich, und es ist schön, dass überall Slowakisch gesprochen wird." Denn auch das Personal in Geschäften und Banken stammt in Kittsee häufig aus der Slowakei.

Reportage Kittsee Bratislava
Viele junge Familien ziehen aus dem Raum Bratislava, weil Wohnen hier günstiger ist.
Redl

Manche der gebürtigen Österreicher nehmen den Zuzug mit gemischten Gefühlen auf. "Es gibt auf beiden Seiten der Grenze liebe und nicht so liebe Leute", sagt eine ältere Frau, die gerade aus der Trafik kommt. Heute müsse sie oft 20 Autos abwarten, bevor sie auf die Hauptstraße abbiegen könne: "Das hat es früher nicht gegeben, da war es ruhiger." Viele, die hier geboren sind, werfen den Zuzüglern vor, sich das Beste aus beiden Welten zu nehmen; nach Kittsee nur zum Schlafen zu kommen und um hier Sozialleistungen zu beziehen. Dass einige ihren Lebensmittelpunkt weiterhin in Bratislava haben, nach vielen Jahren noch nicht Deutsch sprechen und mit den Kittseern nichts zu tun haben wollen, stößt manchen sauer auf.

Kittsee Ortstafel Grenze
Von der Ortstafel von Kittsee zu jener von Bratislava sind es nur rund 800 Meter.
Redl

Dem Bürgermeister nicht. Johannes Hornek (ÖVP) sitzt in einem schwarzen Fauteuil in seinem Büro im Schloss Kittsee und unterscheidet grundsätzlich nicht nach Staatsbürgerschaften. Sagt er. "Für mich gibt es nur Alt- und Neukittseer." Nachsatz: "Es gibt überall charakterlich Starke und Schwache."

Der gelernte Elektriker und hauptberufliche Landwirt kam 2017 als Quereinsteiger und Wahlsieger in die Politik. Es gebe hier sehr viele junge slowakische Familien, von denen er gar nicht erwarte, "dass sie sich großartig im Ort einbringen". Ein paar Vereine gebe es durchaus, in denen mehrheitlich Slowaken ­aktiv seien, meistens Sportvereine. Auf der Gemeinde will er nun eine Person einstellen, die Slowakisch und Deutsch spricht, "was bisher an den Deutschkenntnissen scheiterte". In der Volksschule wird "muttersprachlicher Unterricht Slowakisch" angeboten, 200 der 260 Kinder stammen aus der Slowakei. Der Bürgermeister hält dazu aber auch fest: "Die Neukittseer wollen, dass ihre Kinder Deutsch lernen."

Josef Leban Gasthaus Kittsee
Gastwirt Josef Leban jun. aus Kittsee hat seine Kinder in Bratislava in den Kindergarten geschickt
Redl

Denn viele Slowakinnen und Slowaken haben eben auch ihr soziales Leben nach Österreich verlagert. Im Lauf der Zeit seien viele Freundschaften entstanden, weiß Josef Leban junior. Er betreibt das gleichnamige Wirtshaus an der Hauptstraße Richtung Bahnhof Kittsee. Die Speisekarte in seinem Lokal ist zweisprachig. Seine Kinder hat er in Bratis­lava in die Krippe und in den Kindergarten geschickt, später auch zum Eishockeytraining und ins Tenniscamp. "Viele Kinder hier im Ort wachsen zweisprachig auf, meine Söhne sollten nicht hinten nach sein", sagt er und erzählt, dass viele ihn damals fragten, wie er seinen Kinder das antun könne. Doch vor allem die Kinder unterscheiden überhaupt nicht mehr, welche Staatsbürgerschaft ihre Mitschülerinnen haben, sagt Leban und ist bis heute froh über seine Entscheidung.

Der Wirt ist seit jeher für seine aufgeschlossene Sicht bekannt. In jener Nacht im Dezember 2007, als die Schengengrenze zwischen Österreich und der Slowakei fiel, setzte er sich frühmorgens ins Auto und fuhr zum Grenzübergang auf der Preßburger Straße. "Ich wollte wissen, ob der Weg endlich frei war." Doch die Gemeinde hatte sofort ein Fahrverbotsschild aufgestellt. "So tut man doch nicht mit einem Nachbarn!" Leban störte die Botschaft, die das Schild aussendete. "Ich wollte, dass die Menschen sich bei uns willkommen fühlen." Also gründete er einen runden Tisch, zu dem Menschen von beiden Seiten der Grenze eingeladen sind und den er seither regelmäßig in seinem Gasthof veranstaltet. Ob da auch Slowaken kommen? "Ab und zu verirren sich schon ein paar zu uns, aber ich glaube, was wir hier tun und was wir uns denken, ist denen eher wurscht", sagt Leban. Dennoch glaubt er an ein gutes Miteinander und an die Vorteile der offenen Grenzen. Bis heute fährt Leban gerne mit dem Fahrrad über die Grenze. "In 15 Minuten ist man von der tiefsten Provinz in einer Großstadt."

Reportage Kittsee Bratislava
Von hier, dem Ortsrand von Kittsee auf der Preßburger Straße, sind es noch etwa 750 Meter bis zur Staatsgrenze und dem neuen Stadtentwicklungsgebiet Nesto. Das Fahrverbotsschild wurde nach der Öffnung der Schengengrenzen aufgestellt.
Redl

Und zwar in einer, die immer näher rückt. Wie nahe, das erklärt Marek Dinka auf der anderen Seite der Grenze in seinem Büro in der Altstadt von Bratislava. Der Leiter der Stadtplanung spricht sehr gut Deutsch, er hat an der Uni Wien studiert und seine Diplomarbeit über die Raumordnungssysteme beider Länder geschrieben. Den STANDARD empfängt er gemeinsam mit Christian Berger vom "Bratislava-Umland-Management" (Baum). Das Projekt wurde 2017 gestartet, um die Kommunikation zwischen Bratislava und den angrenzenden österreichischen Gemeinden zu verbessern beziehungsweise überhaupt erst zu ermöglichen. Nun finden regelmäßige Abstimmungstreffen statt; zuletzt im März.

Die Testphase von Baum ist vorbei, nun geht es laut Berger darum, das Projekt zu institutionalisieren. Er hofft auf Beschlüsse in den Landtagen Niederösterreichs und des Burgenlands sowie in der Stadt Bratislava im Herbst. Es wird nicht einfach, denn in der Slowakei ist Sparen angesagt: Der Bund hat den Gemeinden die Mittel um zehn Prozent gekürzt.

Marek Dinka, Stadtplanungschef von Bratislava
Marek Dinka, ist Stadtplanungschef von Bratislava und hat sein Büro in der Altstadt.
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Die Bauprojekte an der Grenze werden aber von privaten Investoren vorangetrieben. Bei Nesto ist es das Luxemburger Unternehmen Lucron. Die erste Phase wird schon gebaut, es entstehen Miet- und Eigentumswohnungen sowie 310 Apartments für Kurzzeitmieter. Das sogenannte Co-Living wird hier erstmals in der Slowakei umgesetzt, berichtet Marketingchef Baslik stolz. Die ersten Eigentumswohnungen werden zu Preisen ab etwa 4000 Euro pro Quadratmeter angeboten. Für den größeren Teil von Nesto, die Phase zwei, wurde der Wettbewerb gerade beendet, bis Jahresende sollen die Ergebnisse publiziert werden.  

Christian Berger, Leiter des Projekts BAUM
Christian Berger leitet das "Bratislava-Umland-Management" (Baum), in seinem Büro in Bratislava hat er noch eine slowakische Kollegin.
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Mehrere weitere Baufelder mit teils schon jahrzehntealten Widmungen dürften in den nächsten fünf bis zehn Jahren bebaut werden (siehe Grafik unten). Das größte davon ist das "Ka­pitelfeld" („Kapitulské Pole“), das nördlich an Nesto angrenzt und bis hinauf zum Grenzübergang Berg reicht. Die Flächen gehören allesamt der katholischen Kirche, erklärt Dinka. Er hat von Verhandlungen mit einem Bauträger gehört, Näheres ist ihm nicht bekannt. Und dann ist da noch der "Filmpark Jarovce", der bald nur ein paar Hundert Meter östlich vom Bahnhof Kittsee gebaut werden soll.

Stadtteil Nesto Bratislava Visualisierung
"Nesto" ist der erste neue Stadtteil an der Grenze, an dem auch schon gebaut wird. Bis zu 11.000 Menschen werden hier einmal wohnen.
Visualisierung: Lucron

Auf der österreichischen Seite der Grenze finden kaum Entwicklungen statt. "Die österreichischen Gemeinden wollen ihren dörflichen Charakter beibehalten", sagt Berger. Das Areal des Filmparks Jarovce war ursprünglich als grenzüberschreitendes Gewerbegebiet vorgesehen, doch auf österreichischer Seite wurde nicht gewidmet. Und das wird auch anderswo entlang der Grenze so bleiben, sagt Bürgermeister Hornek. Er lässt sich von den vielen Bauvorhaben an seiner Gemeindegrenze kaum aus der Ruhe bringen. Obwohl etwa das Genehmigungsverfahren für den Filmpark schon läuft, glaubt Hornek an eine Umsetzung, wenn überhaupt, erst in einigen Jahren. Und die Mietwohnungen in Nesto könnten auch für junge Kittseer interessant sein.

„Film Park Jarovce“ (Solid Studios).
Visualisierung vom geplanten „Film Park Jarovce“ an der österreichischen Grenze (Solid Studios).
Visualisierung: Solid Enterprise

So manche (Alt-)Kittseer sind von den Projekten aber beunruhigt, sagt Gastwirt Leban. Sie fürchten vor allem, dass der Verkehr weiter zunimmt. Und auch die Angst vor Kriminalität spiele eine Rolle. Früher habe man die Schlüssel im Auto stecken lassen können. Jetzt ließe man auch ein Fahrrad nicht mehr draußen stehen. "Aber es ist ja auch klar, dass dort, wo 500.000 Menschen leben, mehr passiert als in Oberwart", sagt Leban.

Schon die Ostöffnung hatte sich klarer­weise auf den kleinen Ort stark ausgewirkt. Schule und Kindergarten wurden erweitert, weil immer mehr Menschen zuziehen. Früher, in den 80er-Jahren, war Kittsee ein kleines Nest. Wäre es so weitergegangen, hätte der Ort heute 500 Einwohner. Hier habe einen – bis auf die Ruhe – nichts gehalten, sagt der Wirt. Auch viele, die bauen möchten, ärgern sich über die Veränderungen. Durch den Zuzug sind die Grundstückspreise enorm gestiegen – auf bis zu 300 Euro pro Quadratmeter. Für andere, auch für ihn als Wirt, sagt Leban, sei die Lage durch den Zuzug aber besser geworden.

Auch in den beiden Fachmarktzentren am Ortsrand kaufen viele Slowaken ein, die nicht in Österreich leben – weil die Qualität der Produkte laut Leban vielfach besser sei. Sie seien sogar explizit für die slowakischen Kunden gebaut worden, sagt Bürgermeister Hornek und wünscht sich eine E-Bus-Linie, "die im Halbstundentakt zwischen den Bahnhöfen Petržalka und Kittsee und den Fachmarktzentren verkehrt". Eine solche internationale Linie koste aber eine sechsstellige Summe im Jahr und sei sehr schwer umzusetzen.

Reportage Kittsee Bratislava
Wer vom Ortsrand von Kittsee in Richtung Staatsgrenze spaziert, sieht in der Ferne die Hochhäuser von Bratislava.
Redl

Eine solche Verbindung würde es vielen in Österreich wohl auch leichter machen, die Nähe Bratislavas zu begreifen. Auch für Leban ist es noch heute manchmal surreal, dass eine große Stadt so nahe liegt, zu der viele aber kaum einen Bezug haben. Früher sei Bratislava einfach nicht da gewesen: "Hier hat unsere Welt aufgehört und dort drüben eine neue Galaxie angefangen", sagt er und zeigt eine slowakische Zwei-Euro-Münze: Die Burg von Bratislava ist darauf abgebildet. Wenn er zu Hause aus dem Dachbodenfenster schaut, sieht er sie in echter Größe – das erstaune ihn schon noch manchmal.

Für Leban ist durch die Öffnung eigentlich nur "der natürliche Zustand wiederhergestellt worden. Hätte es den Eisernen Vorhang nicht gegeben, wären wir längst zusammengewachsen und heute zweisprachig", glaubt er. Und wer in Richtung Grenze spaziert, die in der Ferne liegenden Hochhäuser sieht und spürt, wie nahe die slowakische Hauptstadt tatsächlich ist, wird ihm wohl zustimmen. (Martin Putschögl, Bernadette Redl, 8.7.2023)